Im Jahr nach der großen Jubiläumsausgabe ist es endlich mal an der Zeit, mit ein paar Mythen und Vorschusslorbeeren aufzuräumen, die über das OBS kursieren. Mythos Nr. 1: Das OBS ist im Vergleich zu anderen Festivals stressfrei, weil es nur eine Haupt- und eine Minibühne gibt. Mythos Nr. 2: Getreu dem Motto „Welt aus, OBS an“ kann man in Beverungen all seine Alltagssorgen vergessen und einfach nur eine gute Zeit haben. Im Folgenden sei geschildert, warum diese Behauptungen meines Erachtens mindestens nicht vollumfänglich der Wahrheit entsprechen, aber auch, warum das Festival dadurch kein bisschen schlechter wird, sondern ganz im Gegenteil sogar noch schöner und wertvoller als ohnehin schon.
Es ist natürlich richtig, dass sich Überschneidungen im Zeitplan, die so manches größere Festival für vielseitig Interessierte zur Qual werden lassen, beim OBS in Grenzen halten: Ein Bespielen der Minibühne parallel zur Hauptbühne scheidet schon allein aufgrund der räumlichen Nähe aus, weshalb hier keinerlei Kollisionen zu befürchten sind. Anders verhält es sich mit den inzwischen berühmt-berüchtigten Walking Acts, die eben nicht an einen Ort gebunden sind, sondern sich Plätze innerhalb oder außerhalb des eigentlichen Festivalgeländes suchen, an denen sie über den Tag verteilt mehrere Sets spielen. In diesem Jahr übernahmen diesen Part Florry, das Low Key Orchestra sowie Schreng Schreng & La La.Das erste Konzert der Letztgenannten, das am Samstagmittag gegen 13 Uhr vor der nahegelegenen Eishalle, der sogenannten ‚Kufenalm‘, stattfand, hatte schon allein durch die deutlich voneinander abweichenden körperlichen Verfassungen der beiden Protagonisten einen hohen Unterhaltungswert: Während Lasse Paulus wie frisch aus dem Ei gepellt erzählte, er sei am Vorabend bereits um 11 im Bett gewesen und nun schon seit sieben Stunden wach, erwähnte der sichtlich angeschlagene Jörkk Mechenbier, dass auch er um 11 im Bett gewesen sei: „Wir sind uns so ähnlich, nur 12 Stunden zeitversetzt.“ Anschließend kämpfte er sich jedoch wacker durch den Auftritt und ließ sich dabei auch von seiner heiseren, zwischenzeitlich beinahe versagenden Stimme nicht stoppen.
Wer diesem denkwürdigen Konzert vor Wohnmobilkulisse beiwohnte, verpasste zwar leider Zahn auf der Hauptbühne, konnte anschließend aber immerhin noch ein paar Momente des ersten Auftritts des Gorilla Clubs auf der Minibühne erhaschen, bevor die Schweizer Band Annie Taylor die große Bühne rockte. Direkt anschließend folgte dann – wie bei allen Acts der Minibühne – direkt noch ein zweites Set des Kindermusik-Nebenprojekts von Björn Sonnenberg und Stefanie Schrank von den Locas In Love. Unter anderem hatte der Gorilla Club einen Song mit „Fakten über Oktopoden“ im Gepäck – das passte natürlich ganz hervorragend zum diesjährigen ‚Wappentier‘ des Festivals.
Ebenfalls passenderweise konnte man im Freibad ‚Die Batze‘ in diesem Jahr das ‚Krakenabzeichen‘ machen – doch das war nur einer von immer zahlreicher werdenden Rahmenprogrammpunkten, die – negativ formuliert – ebenfalls vom Musikprogramm des Festivals ablenken, oder aber – positiv formuliert – das ‚OBS-Gesamterlebnis‘ noch vielseitiger werden lassen und dafür sorgen, dass vor allem auch die jüngsten Festivalbesucher*innen, die vielleicht (noch) nicht aus freien Stücken nach Beverungen gekommen sind, auf ihre Kosten kommen können.
Ein nicht zu vernachlässigender Ablenkungsfaktor für nahezu alle Altersklassen befindet sich beim OBS in unmittelbarer Nähe zur Hauptbühne und macht dem musikalischen Timetable mitunter mit einem eigenen eng getakteten Ablaufplan Konkurrenz: Die Rede ist vom Meet & Greet-Stand, an dem auch dieses Jahr wieder die meisten der auftretenden Künstler*innen vorbeischauten, fleißig Merch signierten und ihren Fans Rede und Antwort standen.
Etwas zweckentfremdet wurde der Stand in diesem Jahr am Freitagabend von Thorsten Nagelschmidt: Nachdem er mit seiner Band Muff Potter ein nicht zuletzt auch von der OBS-Crew freudig erwartetes Konzert auf der Hauptbühne gespielt hatte, funktionierte ‚Nagel‘ den M&G-Stand kurzerhand zu einem Second Hand-Laden um und verscherbelte CD-Versionen von Alben aus seiner privaten Sammlung, die er sich inzwischen auf Vinyl nachgekauft hatte. Die dazugehörigen Verkaufsgespräche entwickelten sich manchmal zu so schönen Diskussionen über Musik, dass man leicht vergessen konnte, dass es auf der Hauptbühne zeitgleich Lucy Kruger & The Lost Boys zu bestaunen gab.
Vor Lucy Kruger und Muff Potter hatte das Festival am Freitag auf der Hauptbühne schon dynamische Auftritte von HotWax und Yīn Yīn zu bieten. Ganz zu Beginn hatte Mina Richman einen unglaublich sympathischen Auftritt abgeliefert. Sie erzählte unter anderem, wie sie auf ihrer Suche nach Festivals, auf denen sie gerne einmal auftreten würde, auf das OBS gestoßen war, und wie sie durch die freundlichen Mails des Festivalorganisators Rembert Stiewe in ihrer Berufswahl bestärkt wurde. Minas Songs sorgten für einen entspannten Auftakt nach Maß, der passender nicht hätte sein können, besingt sie doch im Titeltrack ihres aktuellen Albums „Grown Up“ die Orangenblüte.
Am Meet & Greet-Stand konnte man wie schon in den Vorjahren die spannende Erfahrung machen, dass Bühnenfigur und Privatperson im Falle von Künstlerinnen wie Mina Richman, Stina Holmquist oder auch Catt nahezu deckungsgleich zu sein scheinen (obwohl man den öffentlichen Charakter eines M&G-Standes natürlich nicht unterschätzen sollte), während die Unterschiede bei anderen Acts deutlich signifikanter ausfielen. Brimheim etwa wirkte während ihres Auftritts nicht zuletzt aufgrund ihres extravaganten Bühnenoutfits etwas gekünstelt und abgehoben, entpuppte sich beim Meet & Greet dann aber als herzliche und nahbare Gesprächspartnerin. Gleiches galt für die Jungs von Gurriers, die auf der Bühne ihr Rüpelimage pflegten, im persönlichen Kontakt dann aber höflich und grundsympathisch agierten.
Der diesjährige Surprise Act Alex Henry Foster stellte am Meet & Greet seinen eigenen Rekord aus dem Jahr 2022 ein und verbrachte im Anschluss an sein umjubeltes Comeback-Konzert nach einer Herz-OP weit über zwei Stunden am Stand. Auch seine Fans bewiesen große Geduld und Ausdauer und verharrten im teilweise strömenden Regen. Anders als in den Vorjahren, wo der Surprise Act oft bis zur letzten Sekunde geheim blieb, war der Name ‚Alex Henry Foster‘ diesmal im Vorfeld schon einige Male zu hören gewesen, doch viele wagten dennoch nicht zu hoffen, dass ihre Vermutung richtig sein könnte. Da es Alex‘ erster Auftritt nach der Zwangspause war, stockte sicherlich nicht wenigen Festivalbesucher*innen der Atem, als er – wie bei seinen Konzerten üblich – auch diesmal wieder zum Crowdsurfing ansetzte und sich vom Publikum weit über die Wiese des Glitterhouse-Gartens tragen ließ.
Auch in anderen Fällen machte in diesem Jahr auf dem OBS Wiedersehen große Freude: Ivan Carvalho alias Afrodiziac wurde nach seinem triumphalen Einstand auf der Minibühne im Vorjahr nun folgerichtigerweise auf die Hauptbühne eingeladen und überzeugte auch hier mit einer eindrucksvollen Rock-Show, bei der zwischen all der Gitarrenakrobatik stets auch viel Raum für Interaktion mit dem Publikum blieb. Diese wurde im späteren Tagesverlauf am Meet & Greet-Stand weitergeführt, wo Ivan sich mit Besucher*innen unter anderem über Nirvana-Anleihen in seiner Musik und kulinarische Köstlichkeiten Brasiliens austauschte, wodurch beim interessiert lauschenden Verfasser dieser Zeilen die Auftritte von Brockhoff und Iedereen leider etwas zu kurz kamen.
Im Vorjahr waren Loki aus Paderborn kurzfristig für die erkrankte Malva eingesprungen, die ihren verpassten Auftritt 2024 im exakt gleichen Timeslot am frühen Samstagmittag nachholen konnte – ein spätes Happy End und ein gelungener Auftakt für den zweiten Festivaltag. Loki dagegen, die sich mit ihrem letztjährigen Auftritt viele Sympathien erspielt hatten, wurden mit einem erneuten Auftritt zur Prime Time am Sonntag (kurz vor der Versteigerung des OBS-Gemäldes zugunsten von Viva con Agua) belohnt.
Im diesjährigen Lineup fanden sich darüber hinaus aber noch weitere alte Bekannte, deren OBS-Auftritte zum Teil schon länger zurücklagen: Tom Allan hatte zusammen mit The Strangest 2019 bzw. 2022 erst die kleine und dann die große OBS-Bühne bespielt und kehrte 2024 nun mit seiner (zum Zeitpunkt des Festivals hochschwangeren) Frau Veva auf die Minibühne zurück. Mit ihrem gemeinsamen Projekt False Lefty bewies das Paar, dass gute Songs keine üppigen Arrangements benötigen, sondern auch in einem reduzierten Setting bestens funktionieren. In den ruhigeren Momenten der beiden Auftritte entfaltete Toms Gesang sein volles Potential und bislang unentdeckt gebliebene Stimmähnlichkeiten zwischen ihm und Talk Talks Mark Hollis kamen zum Vorschein.
Auch die finnische Band The Holy sowie die Briten von The Slow Show hatten schon einmal auf dem OBS gespielt, wussten aber auch im zweiten Anlauf wieder voll und ganz zu überzeugen. Der Auftritt der Letztgenannten sorgte am Sonntagabend für einen würdigen und stimmungsvollen Ausklang des Festivals.
Bevor auch dieser Nachbericht sein Ende findet, wäre allerdings noch diese Sache mit der Weltflucht zu klären, die das OBS angeblich ermöglicht. Auch an dieser Behauptung ist zwar durchaus etwas dran, denn man sieht auf diesem Festival für gewöhnlich überproportional viele glückliche Gesichter. Diese lassen sich jedoch keineswegs mit Gedankenlosigkeit oder Ignoranz erklären, denn das Festival ist sich seiner Verantwortung für Mensch, Tier und Umwelt stets bewusst, weshalb Organisationen wie Viva con Agua und Sea Watch auf dem OBS sehr präsent sind. In diesem Jahr kam zudem ein Infostand hinzu, der Unterschriften für die Etablierung eines Nationalparks in der Egge sammelte, auch wenn zu diesem Vorhaben leider nur Besucher*innen mit Wohnsitz in den Kreisen Höxter und Paderborn etwas beitragen konnten.
Doch auch wer mit Scheuklappen über das Festivalgelände lief, wurde spätestens durch so manchen Auftritt wachgerüttelt und an drängende Probleme unseres Planeten erinnert: Schon zum Auftakt des Festivals hatte Mina Richman im Rahmen ihres Sets den Song „Baba Said“ gespielt, der die Proteste gegen das iranische Regime aufgreift. Alex Henry Fosters Ansagen nahmen mitunter fast den Gestus einer Predigt gegen Krieg und Vereinzelung an („We are family! We are community!“), und auch der junge Marlo Grosshardt löste mit eingängigen Ohrwürmern wie „Christian Lindner“ spätestens beim zweiten Hinhören einige Denkprozesse über die Schattenseiten der freien Marktwirtschaft und unterbezahlte Pflegekräfte aus.
Natürlich wollte das altbekannte Motto „Welt aus, OBS an“ die Besucher*innen noch nie dazu einladen, ihr Gehirn am Einlass für die Dauer des Festivals abzugeben. Es sollte vermutlich eher das schöne Gefühl beschreiben, dass unter all denjenigen, für die das OBS eine „Herzensangelegenheit“ ist (damit wären wir dann auch beim diesjährigen Motto angekommen), ein breiter Wertekonsens zu bestehen scheint, der Hoffnung macht, dass sich bestimmte Dinge doch noch zum Guten ändern lassen. Ein Besuch im Glitterhouse-Garten allein löst natürlich noch keine Probleme, aber in dieser Oase wird man mit der dringend erforderlichen Zuversicht ausgestattet, um dann auch während des restlichen Jahres Positives bewirken zu können. Vielleicht sollte man darum also (etwas hochtrabend und weniger eingängig) sagen: OBS an – dann bleibt auch die Welt an!
Foto: Afrodiziac, © Ullrich Maurer
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