Auch das musikalische Programm der Reeperbahn-Festivals 2018 bot in der 13. Auflage wieder so ziemlich für jeden Geschmack etwas. Es waren allerdings einige Tendenzen zu beobachten, die den Charakter des Festivals nochmals neu definierten: So gab es in diesem Jahr einen erfreulich hohen Frauenanteil zu beobachten. Wer wollte, konnte sich sein Wunschprogramm so mühelos mit jenen weiblichen Acts aus allen möglichen Stilrichtungen zusammenstellen, die – wenn überhaupt - bei allen anderen Festivals nur am Rande stattfinden. Dann war eine weitere stilistische Ausweitung des Angebotes zu beobachten, bei der sich verstärkt Acts aus dem Bereich Club, E-Pop und R'n'B dem Publikum präsentierten – was für ein Festival, dass mal mit einer dezidierten Indie-Rock-Ausrichtung begann, durchaus bemerkenswert erscheint.
Und auch das Showcase-Programm bot mit dem Partnerland Frankreich, sowie den bereits etablierten Länder-Showcases wie dem Canada House, dem Aussie Barbeque, Meet The Dutch oder dem Swiss-Mixer wieder ein reichhaltiges Angebot. Es macht sich allerdings langsam bemerkbar, dass die Club-Kapazität trotz aller Bemühungen nicht im gleichen Maße wächst, wie das Angebot, so dass in diesem Jahr nahezu alle Veranstaltungen jeweils bis auf die letzten Plätze gefüllt waren und sich – nicht nur bei Großbaustellen wie dem Einsatz der Stadienrocker Muse als Überraschungsact – für gewöhnlich lange Schlangen vor dem Einlass bildeten. Und aufgrund des eng gesteckten Zeitplanes erreichten dann in diesem Jahr unangenehm viele Acts nicht rechtzeitig die Spielstätten, so dass die Fans öfters mit Ersatzlösungen für Bands, die noch mit der Anreise beschäftigt waren, beglückt werden mussten – was leider über die ansonsten prächtig funktionierende Festival-App nicht rechtzeitig bekannt gegeben wurde. Sogar zwei Konzerte in der Elbphilharmoine waren davon betroffen. Musikalisch gab es dieses Jahr ein stilistisch besonders breit gefächertes Angebot zu begutachten, das sich im Falle des Anchor-Live-Awards mit einer originellen Doppel-Spitze aus zwei sehr unterschiedlichen Belgischen Acts – Tamino und Faces On TV – widerspiegelte. Aufgrund eines Kommunikationsfehlers eröffnete Charlotte Brandi (die ehemalige treibende Kraft von Me & My Drummer) mit ihren Musikerinnen das Festival auf dem N-Joy-Reeperbahn-Bus mit einem denkwürdigen Set, das aus einem einzigen Titel bestand. Dann ging es in rascher Folge auf dem Spielbudenplatz weiter mit Auftritten des britischen Songwriters Declan O'Donovan, der niederländischen Power-Pop-Truppe Eut, dem niederländischen Old-School-Rock'n'Roller Jett Rebel, der lokalen E-Pop-Queen Kuoko beim N-Joy-Bus oder der Chemnitzer Band Blond auf der Astra-Bühne bevor es dann mit Ray's Reeperbahn-Revue und der Radiosendung Blauen Stunde aus der Alten Liebe (wo die Londoner Band Goat Girl ein einzigartiges Akustik-Set spielte und Frum von den Faröer-Inseln und das österreichische Indie-Blues-Duo Cari Cari ihren Einstand geben) langsam die Club-Phase eingeläutet wurde. Die Argentinierin Malena Zavala und ihre Band überzeugten anschließend im Headcrash mit einer brillanten konventionellen Indie-Rock-Show, während sie sich auf ihrer Debüt-CD noch von einer deutlich ätherischeren Seite gezeigt hatte. Jerry Williams aus Portsmouth (die erstmals mit einer Band in Deutschland unterwegs war) versuchte sich im Anschluss in der gut aufgeheizten Molotow-Sky-Bar mit einer gut gelaunten Mersey-Beat-Variante. Laura Carbone aus Berlin machte im Sommersalon mit ihrer schmirgelnden Düster-Rock-Variante den Abend zur Nacht und Brett Newski aus Wisconsin bewies im St. Pauli Museum, dass eine „vollständige Band“ durchaus auch mal aus zwei Mann – Brett und Drummer Matt Spatol – bestehen kann, ohne das etwas fehlt. Nachdem die Damen von Goat Girl bereits bei ihrem Gig in der alten Liebe deutlich gemacht hatten, dass dieser Tag (anreisebedingt) nicht unbedingt der ihre gewesen war, boten sie zum Abschluss des ersten Tages im Häkken eine zwar recht ordentliche, aber nicht wirklich inspirierte Leistung.Der zweite Tag begann mit inoffiziellen kurzen Sessions von Aisha Badru, und den australischen Hollow Coves bevor es dann mit den Dutch-Impact-Shows im Molotow weiter ging. Dort bot zunächst Joep Beving entspannte Piano-Elegien bis dann Eut aus Amsterdam in der Sky Bar ein „richtiges“ Set mit voller Power und Lautstärke spielten. Im Club machten dann Pip Blom und ihre hyperaktive Band mit punkiger Attitüde den Eindruck, als ginge es darum das Genre Power Pop in weiten Teilen neu zu definieren. Im Canada House gab es dann zwei Acts aus der Mitte des großen Landes zu begutachten, die sich dem E-Pop im weitesten Sinne widmeten. Rayannah aus Winnipeg ist mit Französisch als Muttersprache aufgewachsen und präsentiert deswegen ihre jazzigen R'n'B-Elegien zweisprachig, während Tess Roby zwar aus Montreal stammt, aber mit Französisch nix am Hut hat, sondern sich darauf konzentriert ihre eigenartigen Lyrics zu eher flächig angelegten Emo-E-Pop-Balladen auf Englisch zu singen. In der St. Pauli-Kirche gaben dann das niederländische Folkpop-Ensemble Rosemary & Carlic ein berührendes Akustik-Konzert, das insbesondere vom federleichten Gesang Anne van den Hoogen's lebte, der wie gemacht war für den liturgischen Rahmen der Spielstätte. Im Angies Nightclub zeigte Halo Maud aus Frankreich, dass es nicht besonders viele Akkorde braucht, um faszinierend hypnotischen Indie-New-Wave-Pop mit psychedelischer Note zu veranstalten. Im Docks gab die Norwegerin Sigrid ein eher generisch angerichtetes Mainstream-Pop-Konzert, das insbesondere von den jungen Damen im Publikum bejubelt wurde während sich anschließend im Bahnhof St. Pauli Moli an der – ebenfalls generisch ausgerichteten – souligen Pop Variante versuchte. Beides wurde technisch kompetent, aber ohne eigene Identität dargeboten. Von einem ganz anderen Kaliber ist dann Linn Koch-Emery aus Schweden, die beim Showcase der Skandinavier in der viel zu kleinen Poocca-Bar mangels Platzangebot nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit ihrer Band dem psychedelisch aufgebohrten Grunge-Rock ein begeisterndes akustisches Denkmal setzte. Für manche war dann der Auftritt der Singer/Songwritenden Harfenistin Mikaela Davis und ihrer eher übermotivierten Band in Angie's Nightclub – nicht nur optisch – ein Highlight des Tages.
Der Freitag ist im Molotow traditionellerweise für die Aussies und ihr jährliches Barbeque reserviert. Hier gab es dann einen guten Mix aus Neuem, bereits Bekanntem, Offensichtlichem und Obskuren zu bewundern: Das Weird-Folk Ensemble Dandelion Wine verwunderte etwa mit „Game Of Thrones Disco“, die Prog-Rock-Truppe Tempesst und das Indie-Pop-Duo Geowulf wurden (mit vollkommen unterschiedlichem Ansatz) in Personalunion von dem hemdsärmelig gut gelaunten Toma Banjamin geleitet. Der quirlige Songwriter Mijo Biscan musste dann den ersten der im Folgenden häufiger auftretenden Regenschauer bewältigen und tat das mit einer überraschend rockigen Show. Dafür lehnten sich die Hollow Coves dann musikalisch eher zurück und zeigten sich als würdige Erben der großen, amerikanischen Harmonie-Gesangs-Duos. Amyl & The Sniffers waren eine der Bands, die es aufgrund von Verkehrsproblemen nicht rechtzeitig zum Auftritt geschafft hatten, wurden aber durchaus würdig von der jungen Indie-Songwriterin Angie McMahon vertreten, die mit einer großen Gitarre und einer ebenso großen Stimme zu begeistern wusste. Ihre Freundin, die in Australien angesagte Indie-Ikone Ainsley Wills, haut musikalisch in eine ähnliche Richtung wie Angie – tat dies indes mit einer kompletten Band. Zeitgleich zum Aussie-Barbeque fanden in der Molotow Skybar die Finnischen Showcases statt. Hier debütierte die junge Pop-Queen Lxandra, die sich von Berlin aus anschickt, ihre opulent angerichteten Edelpop-Hymnen – zwar mit großer Geste aber durchaus auch mit Herz - auf ein breites, international kompatibles Fundament zu stellen. Zum dramatisch sich zuziehenden Gewitterhimmel zeigten in der Spielbude das deutsche E-Pop-Duo Eveline und die polnische DJane-Soundfricklerin Min T zwei sehr unterschiedliche, aber durchaus unterhaltsame Spielarten des elektronischen Genres im Live-Kontext. Nora Steiner & Madlaina Pollina (die kleine Schwester von Faber) eröffneten dann die Schweizer Showcases mit einem wirklich begeisternden Set mit Tracks ihrer gerade erst erschienenen Debüt-LP „Cheers“, auf der sie sich – in klassischer Schweizer Tradition – mehrsprachig und mit charmantem Witz über sich und das Leben amüsierten. Viele, die den anschließenden Gig des Belgiers Tamino im Imperial-Theater gesehen haben, hätten nicht unbedingt darauf gewettet, dass er mit seinem eindringlichen, intensiven und hochemotionalen Vortrag (der indes vollkommen ohne Effekte und große Gesten auskam) die Anchor Fachjury um Tony Visconti hätte überzeugen können. Dass er es dennoch tat – und folgerichtig (zusammen mit seinem Landsmann Jasper Maekelberg a.k.a. Faces On TV) den Sieg davon trug – spricht sowohl für die Qualität seines Vortrages wie auch die Übersicht der Jury. Im Kaiserkeller unter der großen Freiheit hatten sich derweil zwei kleine große Musik-Regionen zusammengetan: Luxemburg und die Faröer-Inseln präsentierten einen gemeinsamen Showcase. Hier traten dann auch Frum (die in diesem Jahr auch für den Anchor nominiert war) wie auch ihre Landsfrau Konni Kass (die bei der ersten Anchor-Runde ebenfalls nominiert gewesen war) auf. Frum versuchte es mit kostümtechnisch wagemutig illustriertem Elfen-Pop, während sich Konni mit ihrem Drummer auf das Wesentliche konzentrierte und ein grandioses E-Pop-Konzert inszenierte.
Der Kernevent des letzten Festival-Tages ist traditionellerweise das PIAS/FKP Scorpio Barbecue im Molotow Backyard. Leider war das dann auch der Tag mit dem konstantesten Regen-Durchsatz. Als zuvor Adele Nigro aus Italien mit ihrer Band Any Other die Bühne der Spielbude erklomm, zogen sich die grauen Gewitterwolken bereits bedrohlich zusammen. Adele wurde im Vorfeld aufgrund dessen, dass sie kurz als Solo-Künstlerin unterwegs war, bevor sie Any Other ins Leben rief, als Singer-Songwriterin verkauft. Davon ist heutzutage nichts mehr übrig: Es gab streng linear ausgerichteten, spröden Post-Rock mit Gesang. Nicht unbedingt das, was man als Crowdpleaser-Musik bezeichnen würde. Etwas lockerer ging es dann im Molotow zu, als sich dort zunächst der Franzose Sage mehr schlecht als recht an englischsprachigen Folkpop-Songs versuchte, das aus Evelyn Taylor und Nicholas Frampton Duo Field Divsion, dass soeben mit der grandiosen Scheibe „Dark Matter Dreams“ die Freunde klassischen Old-School-Gitarrenpops begeistert hatte, sich aus Budgetgründen mit einer akustischen Hippie-Variante ihres Repertoires begnügen musste, Charlotte Brandi und ihre Musikerinnen sich durch die letzte Show ihres Festival-Marathons kämpfte und das Pariser Duo Royaume mit einem faszinierenden Mix aus Club-, E-Pop und Stadienposer-Rock als Tagessieger aus der Veranstaltung hervorgingen. Im Häkken-Club zeigten danach das Duo Milkywhale aus Island, dass man dortselbst nicht nur elegische Trauerkloß-Epen lostreten kann, sondern auch gutgelaunte Party-Club-Musik mit Animationscharakter. In der Haspa-Filiale zeigte Kuoko mit selbstgebastelten Beamer-Projektionen, Ausdruckstanz und einer hübschen Staffage mit Fernost-Optik noch ein Mal, dass sich ansprechende E-Pop-Musik auch ohne großes Instrumentarium im Live-Kontext unterhaltsam präsentieren lässt. Mit einer eher unangenehmen Hochglanz-Popstar-Aura ließ sich die junge amerikanische It-Girl-Aspirantin Charlotte Lawrence in der Prinzenbar von ihren jungen Elevinnen dafür anhimmeln, dass sie eine unglaubliche Menge an „F**k Yous“ in ihren generischen Soulpop-Lyrics unterbrachte. Die inzwischen in Berlin residierende Mailänderin Jessica Einaudi überraschte in Angies Nightclub danach mit einem eigenwilligen, reduzierten Solo-Auftritt dadurch, dass sie die E-Pop-Songs ihres Debütalbums unter eigenem Namen in einem absolut organischen Setting mit viel Herz und Seele präsentierte. Aus einer ganz anderen Richtung kommt das irische Trio Wyvern Lingo. Die drei Damen haben sich der schwärzestmöglichen Variante der Soulpop-Popmusik verschrieben und konzentrieren sich dabei – mit Akzenten aus Funk und Hip Hop - sowohl den rhythmischen Aspekten ihres Tuns wie auch auf die sorgsam austarierten, faszinierend exakten Gesangsharmonien – und verzichten dabei auf alle musikalischen Aspekte, die ihr Aussehen musikalisch eigentlich nahegelegt hätte. Gerade die Diskrepanz zwischen der Optik und der Musik machen dann den Reiz einer Wyvern Lingo-Show aus. Spannend wird nun zu beobachten sein, wie sich das Reeperbahn-Festival im nächsten Jahr weiter entwickeln wird – denn eine Ausweitung des Angebotes ist ja eigentlich weder zahlenmäßig, noch stilistisch denkbar.
Text + Photo: Ullrich Maurer