Auch die 11. Ausgabe des Reeperbahn-Festivals wartete wieder mit einigen Premieren auf, die für verschiedenste Publikumskreise von Interesse waren. Wahrscheinlich auch deshalb verzeichnete die Veranstaltung mit 38000 Besuchern und 4000 Fachbesuchern einen neuen Besucherrekord. Zu diesen Premieren zählte beispielsweise die Inklusion klassischer Musik in das Festivalprogramm – etwa in Form der Uraufführung von Matthias Arfmans „Ballet Jeunesse“. Dann gab es die Pollockopter-Aktion, bei der mittels ferngesteuerter Drohnen Farbbeutel gegen die Frontverkleidung der Esso-Häuser-Baustelle gesteuert wurden, um so ein Kunstwerk in der Art von Jackson Pollock zu erzeugen. Auch gab es mit den Niederlanden wieder ein Partnerland für das Festival – mit einem entsprechenden Schwerpunktprogramm. Und neue Länder-Showcases wie z.B. jener von Weißrussland sorgten für eine Erweiterung des musikalischen Angebotes. Nicht, dass dies wirklich zwingend notwendig gewesen wäre, denn mit über 400 Shows in über 70 Spielstätten war garantiert, dass es niemanden gab, der etwa alle Veranstaltungen hätte besuchen können. Es galt also wiederum nach dem Triage-Verfahren, die subjektiv wichtigsten Gigs auszusuchen. Was gar nicht so einfach ist, wenn sich ein Großteil der Klientel erstmalig dem Publikum präsentiert.
Los ging es traditionellerweise mit dem (kostenfreien) Programm des N-Joy Reeperbusses auf dem Spielbudenplatz. Dieser hat sich mittlerweile zu einer festen Größe im Programm entwickelt – nicht zuletzt, weil man hier mit kurzen akustischen Sets und Interviews Entscheidungshilfen für den Konzertbesuch am Abend geliefert bekommt. Der erste Act war der in London ansässige Däne Alex Vargas, der mit seinem organischen Songwriterlamento in die Fußstapfen von ähnlich gepolten Vorgängern wie Ry X oder Hosier stolperte. Fil Bo Riva, der Mann aus Berlin, der aber auch irische und italienische Wurzeln vorzuweisen hat, überzeugte gleich darauf mit einem charakteristisch/markantem Gesangsvortrag, für den das akustische Setting besonders förderlich erschien. Die Berliner Super-Boy-Group Oum Shatt gefiel dann durch ihre Spezialität – Indie-Rock mit griechisch/türkisch/orientalischen Harmonien und Versatzstücken zu mischen. Es folgte die Eröffnungsveranstaltung des Anchor Awards – eines erstmals vergebenen Preises für die beste Live-Aufführung auf dem Festival selbst, der von einer hochkarätig besetzten Fachjury zwischen 8 nominierten Newcomer-Acts ausgehandelt wurde. (Der am Samstag verkündete Gewinner war am Schluss der Schwede Albin Lee Meldau.) Der erste Showcase des Festivals fand dann unter dem Titel Hidden Talents in der Spielbude statt. Hier erfreuten Poems For Jamiro mit elektronisch präsentiertem Folkpop, Lunascope mit Disco-Pop und June Coco mit überkandideltem Kook-Pop das Publikum. Im Docks stieg derweil die erste Labelnight, auf der etwa die Engländerin Frances einen Gig mit Band spielte und sich als Alternative für Adele andiente. Die Überraschung des ersten Festivaltages war dann in der Prinzenbar die hinreißende Rock-Show der Band Gurr um die beiden Riot-Sisters Andreya Casablanca und Laura Lee Jenkins. Mit so viel Chuzpe, Energie und Lebensfreude hat jedenfalls schon lange niemand mehr den Rock'n'Roll für sich neu erfunden. Oum Shatt hatten im Folgenden Schwierigkeiten, dem noch etwas hinzuzufügen. Ein 30-minütiger Soundcheck und anschließende Soundprobleme waren es jedenfalls nicht. Am zweiten Tag begann der Showcase-Zirkus in Weißrussland. Moderiert von Alan Bangs präsentierten sich hier erstmals Acts aus der ehemaligen Sowjetrepublik dem Publikum – darunter Super Besse, eine weißrussische Joy Division Emulation und Mustelide, ein avantgardistisches, elektronisches Artpop-Projekt der Künstlerin Natallia Kunitskaya. Im Molotow eröffneten Rats On Rafts den Showcase Reigen für die Niederlande, die in diesem Jahr das Partnerland des Reeperbahn-Festivals stellten. Rats On Rafts überzeugten mit einer für diese Tageszeug bemerkenswert ernsthaft präsentierten Noise-Post-Punk-Grunge-Show, die mit ziemlicher Konsequenz inszeniert wurde. Das Kukuun im neuen Klubhaus wurde nach 2015 nun schon zum zweiten Mal für zwei Tage zum Canada-House, wo die kanadische Delegation unter dem Motto „Canadian Blast“ ihre Showcases zusammenfasste. Den Anfang machte Joel Henderson alias Poor Nameless Boy, der typisch kanadische Kleinstadtstorys zu nicht weiter störenden Folksongs zusammenfasste. Auf dem Reeperbus ging es mit Malky, einer echten RF-Entdeckung weiter, gefolgt von dem polnischen Duo Coals, das mit angenehmen E-Pop-Trip-Hop-Sounds gefiel. Auch eine Reeperbahn-Entdeckung ist Lilly Among Clouds, die in diesem Jahr mit insgesamt 5 Auftritten den Vielspieler-Rekord belegte (dicht gefolgt von Labelkollege Kurt Blau, der es immerhin auf 4 Slots brachte). Im Plattenladen Michelles spielte Lilly eine Solo-Show, während sie zwei Tage später im Molotow-Backyard mit Band auftrat. Holly Macve ist eine junge Engländerin, die indes die geradlinige Countrymusik als Mittel ihrer Wahl auserkoren hat und im Molotow am Abend eine Show im Rahmen ihrer Anchor-Awards-Nominierung spielte. In der etwas außerhalb gelegenen Spielstätte Grüner Jäger gab es danach noch eine bemerkenswert dröhnende Rock-Show der Folkpop-Songwriterin Thayer Sarrano aus Athens, Georgia zu bewundern. Im Docks schließlich feierte die Französin Louane das Ende ihrer höchst erfolgreich verlaufenen Europa-Tour mit einem lebhaften Auftritt, auf dem tatsächlich eher die organischen Elemente ihres Tuns im Mittelpunkt standen, obwohl sie natürlich vornehmlich ein junges Pop-Publikum anspricht. Im Canada House ging es am dritten Festival-Tag dem Auftritt des RF-Veteranen Ben Caplan weiter, der das Publikum mit seinem leicht wirren Americana-Folk-Pop-Zirkus-Act aufrüttelte. Erin Costello lieferte hierzu sozusagen eine Antithese, denn die Kanadierin macht bluesigen Soulpop. Im Prinzip tut das auch Izzy Bizu, die ihren kommenden Superstar-Status mit einem spontan angesetzten – bemerkenswert jazzigen – Akustik-Gig in der Molotow Sky Bar noch ein Mal relativierte. Sie selbst war dann vermutlich die einzige, die über den regen Zuspruch überrascht war. Im Canada House rockte derweil Christina Martin das Haus. Das im wörtlichen Sinne, da die zierliche Kanadierin dieses Mal mit ihrer kompletten Band angereist war und die rockigen Elemente ihrer letzten Studio-Produktionen grandios betonte. Ihre Landsfrau Ria Mae hat sich hingegen auf eine eher poppige Spielweise festgelegt. Auf dem Spielbudenplatz lief dann noch ein alter Bekannter herum: James Johnston ist seit mehr als 20 Jahren Vorsitzender der britischen Psych-Rock-Düster-Band Gallon Drunk, hatte sich aber für das Festival ein Alter Ego als akustischer Songwriter zugelegt. The Slow Show aus Manchester haben auf dem Reeperbahn-Festival vor zwei Jahren ihre Karriere mächtig angeschoben und traten dieses Mal als akustisches Kerntrio auf um die Songs ihrer neuen CD „Dream Darling“ zu präsentieren. Mit entsprechendem Zuspruch: Ihr Slot auf dem Reeperbus und jener im Imperial Theater zählten zu den beliebtesten des Festivals. Auch die Schweizer Delegation hatte wieder zum Showcase geladen – zum Beispiel mit dem bemerkenswert unkonventionellen Rocktrio Me + Marie, das aus zwei Gitarristen und der singenden Frontfrau Maria de Val besteht. Im Michelles spielte danach Karl Blau mit seiner Band einen seiner vier Auftritte. Dort traf man dann zufällig auch noch auf Hanna Leess – eine quirlige kleine Songwriterin mit einer großen heiseren Stimme, die an diesem Tag zwar ihr Debütalbum „Dirty Mouth Sweet Heart“ veröffentlichte, es aber nicht mehr ins offizielle RF-Line-Up geschafft hatte. Sei es drum: Sie spielte ein grandioses Set zwischen Blues, Swing, Rock und Folkpop, mit dem sie die zufällig anwesenden mit Leichtigkeit auf ihre Seite zog. Im Kukuun gastierte anschließend die Kanadierin Alejandra Ribera und spielte im Trio-Format ein berührendes akustisches Set zwischen Folk, Blues und Jazz. Eine ganz andere Zielrichtung verfolgt ja die neue Indie-Ikone Mitski, die mit ihrem eher kurzfristig angesetzten Gig im Indra Club eher die Rockfreunde ansprach. Die kleine New Yorkerin überzeugte hier mit einem konsequenten No-Nonsene-Ansatz, der angenehm an die großen Zeiten des abrasiven City-Rock erinnerte. Anna Ternheim hatte am frühen Abend noch beim Konzert von Konni Kass im Imperial-Theater ihre Pflicht als Anchor-Jurorin absolviert – was sie aber nicht hinderte, in der großen Freiheit zu später Stunde noch ein zweistündiges Konzert zu spielen, zu dem sie erneut ihren musikalischen Live-Ansatz neu sortiert hatte und wieder ein Mal zeigte, dass man sich auf sie insofern verlassen kann, als das man sich nicht auf sie verlassen kann, sondern sie immer wieder etwas neues zu bieten hat. Wie bereits erwähnt ging der letzte Festivaltag mit einem Showcase im Molotow Backyard los, bei dem Karl Blau und Lilly Among Clouds mit weiteren Shows ihre Präsenz untermauerten. Bevor danach Rhonda mit einem für dieses Setting sehr geeigneten Mix aus Rock und Soul die Stimmung ordentlich anheizten, gab es dann auf dem Reeperbus noch zwei junge Damen zu begutachten, die gerade erst am Anfang ihrer Laufbahnen stehen: Lina Maly überzeugte mit souverän dargebotenen, einfühlsamen deutschsprachigen Pop-Balladen und die Österreicherin Avec erreichte mit der akustischen Variante ihrer betont unfolkig konstruierten Songs sogar noch mehr Aufmerksamkeit als bei ihrem Gig am Abend, der nämlich unter einem besonders aufdringlichen Plapper-Faktor litt. Die Spielbude war an diesem Tag von der Finnischen Fraktion mit Beschlag belegt worden und hier gab es dann einen Auftritt von Have You Ever Seen The Jane Fonda Aerobic Video VHS? Zu bestaunen. Die Band um die Frontfrau, die aussieht wie Pippi Langstrumpf und singt wie Kim Deal schaffte es, das Haus zu rocken, ohne eine Gitarre zu bemühen (indem einfach die Orgel entsprechend losdröhnte). Danach gab es ein wenig Glamour im Docks zu begutachten. Die junge Londonerin Jones debütierte hier mit einer grandiosen Lightshow, einem eleganten Outfit und expressiver Bühnenpräsentation und spielte erstmalig die Songs ihres kommenden Debüt-Albums „New Skin“. Hier galt dann der Spruch, dass Musik auch mal größer als das Leben sein darf. Im Nochtspeicher hatte sich derweil Norma Jean Martine mit ihrer Band bereitgemacht, die Songs ihres kommenden Albums „Only In My Mind“ zu präsentieren – natürlich inklusive der vorab veröffentlichten Single-Nummern. Dabei machte Norma deutlich, dass sie sich keineswegs als Singles- oder Popkünstlerin sieht, sondern präsentierte im Wesentlichen eine Rock-Show mit soulig- bluesiger Note. Alexandra Savior war eigens mit Ihrer Band für diesen einen Auftritt angereist. Sie hat außer zwei Tracks (einer davon auf dem True Detective-Soundtrack) noch nichts an Veröffentlichungen vorzuweisen – wohl aber einen Fundus beeindruckender Southern-Noir-Songs, die sie zusammen mit dem Arctic Monkey Vorsitzenden Alex Turner geschrieben hat. Rein musikalisch war diese Show für Freunde dieser Art von Musik sicherlich eine Offenbarung. Fast schon gewohnheitsgemäß beendeten Karl Blau und seine Band dann den Abend mit einem relaxten Set, in dem der unscheinbare Mann mit dem lustigen Hut zusammen mit seiner Band die ganze Spannbreite des countryfizierten Memphis-Soul Revue passieren ließ – inklusive eines passenden Bee Gees Cover.Nicht unerwähnt bleiben sollte aber noch eine besondere Neuerung des Reeperbahn-Festivals. Denn in diesem Jahr wurde erstmals der Anchor Award verliehen. Dieses ist ein Preis für die beste Live-Performance eines Newcomers auf dem Festival, die von einer mit Tony Visconti, Ray Cokes, SXSW Anchor James Minor und den Musikerinnen Anna Ternheim, Emiliana Torrini und Y'Akoto illuster besetzten Fachjury ausgelobt wurde. Der stolze Sieger war dann der Däne Albin Lee Meldau. Auch in diesem Sinn stellte das Festival mit seinen über 400 Musikveranstaltung wieder einen unerschöpflichen Fundus für die Entdeckung neuer Musik dar.