(Voland & Quist, 320 S., 24,00 Euro)
Dotan-Dreyfus stammt aus Israel und lebt seit Jahren in Berlin, wo er sich 2020 dank eines Senats-Stipendiums daran machen konnte, seinen ersten Roman zu verfassen. Der sucht nun – in feiner V&Q-Aufmachung auf wundervollem Papier gedruckt und mit einem Lesebändchen versehen – seine Leser und sollte sie unbedingt auch finden. Denn Birobidschan ist eine durchaus konkrete (und doch komplett surreale) Stadt, eine besondere Stadt: dort, im Fernen Osten Russlands, kurz vor der Pazifikküste, initiierte Stalin in den 1930ern ein Experiment in jüdisch-sozialistischer Autonomie, das als Gesellschaftsmodell scheiterte und doch bis heute als "Jüdische Autonome Oblast" existiert. Auf halben Weg zum Ozean liegt das legendenumwobene Tunguska-Gebiet, über dem 1908 ein Meteorit explodierte - im Buch begeben sich die Freunde Gregory und Sascha auf den Weg dahin, auch um des einen Depressionen zu lindern. Derweilen fragen zwei eigenartige Fremde nach Kragenbären, die über den die Grenze zu China bildenden Amur gekommen sein sollen, Alex und Rachel ringen um ihre Sandkastenliebe und einen Toten gibt es auch. Ein 500-Rubel-Schein muß verschwinden, stört er doch die natürliche Ordnung der Dinge. Nur taucht er – trotz sorgfältiger Versenkung – buchstäblich wieder auf. Eine Menge Ereignisse, die den Alltag in Birobidschan zu unterschiedlichsten Zeiten gleichermaßen durcheinander bringen. Die Welt gerät aus den Fugen. Unbemerkt, aber allerorten und jederzeit. Bald sind die Dinge so verworren wie die dekorativen Streifen auf dem Einband (über dem Foto mit dem in der großen (Welt)Maschine verloren wirkenden Arbeiter). Dabei spielt das Jüdischsein keine Rolle: Liebe & Wahn, Trauer & Warten finden im weltabgeschiedenen Birobidschan genauso statt wie überall. Und doch geht es in und zwischen jeder Zeile auch ums Jüdische, Jiddische. Um das Schtetl am äußersten Rand Sibiriens. Für mich reiht sich Dotan-Dreyfus mit diesem fulminanten, hier lustigen, dort abgründigen Roman passgenau zwischen Bulgakow und Vargas Llosa ein. Höchst merkwürdige Figuren treiben durch magische Alltagswelten; voller Parabeln und Anspielungen, denen mit herkömmlicher Logik kaum beizukommen ist und die in ihrer Gesamtheit wohl nicht einmal ihr Schöpfer gänzlich durchschaut. Der Leser jedenfalls nicht – und das ist in diesem Fall ein gewichtiges Argument FÜR dieses rätselhaft-schöne Buch.Weitere Infos: www.voland-quist.de/wppb_works/birobidschan