(Suhrkamp, 333 S., 28,00 Euro)
Lea Ypi ist Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics. Wow. Vorher war sie wissenschaftlich in Paris, Oxford, Stanford und Frankfurt/M. tätig – Spezialgebiet politische Philosophie. Und für den "Guardian" schreibt sie auch regelmäßig - eine gebildete, wache und eloquente Frau. Mit ihrem – für meine Begriffe fälschlicherweise unter Sachbuch einsortierten – autobiografischen Text "Frei" betritt sie nun auch die literarische Bühne. Und das sehr überzeugend. Denn ihre Beschreibung vom "Erwachsenwerden am Ende der Geschichte" ist sprachlich gelungen und inhaltlich mehr als interessant. Weil: Ypi entstammt einer Familie von albanischen Intellektuellen (als solche galten alle "Studierten"), der fehlende proletarische Hintergrund war auch die Ursache für verschiedene Seltsamkeiten, die der braven sozialistischen Schülerin, mehr noch aber ihren Eltern und Großeltern zustießen – Probleme mit der "Biografie". Das Buch beginnt damit, dass im Dezember 1990 die kleine Lea auf der Flucht vor streunenden Hunden eine Stalin-Statue umarmt – endlich in Sicherheit! Aber – oh Schreck! - jemand hat Stalins Kopf gestohlen! Waren es die Hooligans (so nennt die Propaganda die "Freiheit, Demokratie!" rufenden Demonstranten)? Dabei hatten sie gerade erst im Unterricht gelernt, wie sehr Stalin Kinder liebte. "Mehr als Lenin?" "Ungefähr genau so sehr, aber seine Feinde haben immer versucht, das zu verheimlichen." "Hat Stalin Kinder so geliebt wie Onkel Enver?" "Noch mehr?" Die zögernde Lehrerin rettet sich aus dieser gefährlichen ideologischen Falle (Onkel Enver ist der 1985 verstorbene Gründer des sozialistischen Albaniens) mit einem alten Trick: "Ihr wisst die Antwort". Schon nach wenigen Seiten ist man gefangen von der bestechend geschilderten kindlichen Begeisterung für den unweigerlich kommenden, aber natürlich täglich neu zu erkämpfenden Kommunismus. Denn Lea ist durchdrungen von der Begeisterung für das bessere Morgen, das ihre Lehrer täglich neu verklären: "Bei uns gab es Freiheit für alle, nicht bloß für Ausbeuter. Wir arbeiteten nicht nur für die Kapitalisten, sondern für uns selbst, und die Früchte der Arbeit wurden geteilt. Wir kannten keine Gier und hatten keinen Anlass zu Neid. Alle Bedürfnisse wurden erfüllt und die Partei half uns dabei, unsere Stärken zu entwickeln." Unbedingt möchte sie ein Bild von "Onkel Enver" in der elterlichen Wohnung aufstellen, die geschickte Zurückhaltung der Eltern versteht sie überhaupt nicht. Da war ihr aber auch noch nicht klar, dass wegen der falschen "Biografie" z.B. ihre musisch begabte Mutter Mathematiklehrerin werden musste – für ein Musikstudium empfehlen sich doch eher ideologisch gefestigte Menschen. Wegen einer vermeintlich gestohlenen (selbstredend leeren, aber doch stolz auf einem Spitzendeckchen präsentierten) Coca-Cola-Dose bricht man mit den Nachbarn, währenddessen pflastert die Partei aus Furcht vorm imperialistischen Überfall das Land mit Bunkern. Eine paranoide, in sich aber zumindest für das Kind durchaus schlüssige Welt. Dann kommen die "Hooligans" und stürzen das System. Es folgen (noch mehr) Armut und Abwanderung - das Ganze gipfelt im nach dem Zusammenbruch eines zwielichtigen Kreditsystems einsetzenden Bürgerkrieg. Dabei wusste der Vater schon immer, dass der einzige Zweck des Kapitalismus "darin bestehe, des Profits wegen immer mehr zu kaufen und zu verkaufen, allein um sich selbst am Laufen zu halten." Auch sonst hatte er das neue System schnell sehr klar und nüchtern verstanden: es ist dort "...unmöglich Geld zu verdienen, ohne andere auszubeuten, denen es fehlte. Wer viel Geld besaß, besaß auch viel Macht, konnte wichtige Entscheidungen beeinflussen und verhindern, dass Leute mit weniger Startkapital zu ihnen aufschließen." "Wenn man etwas verändern will, braucht man letztendlich eine Revolution, denn kein Mensch wird seine Privilegien freiwillig aufgeben." Schlicht, aber wahr. Nur: wie dann die Irrungen des stalinistischen Isolationismus vermeiden? Wie verhindern, dass wieder Spitzel und Schergen die Menschen terrorisieren? Wie wirkliche "Freiheit" gestalten? Während der Vater eher zufällig und widerstrebend die Karriereleiter hoch klettert, engagiert sich seine Frau sofort politisch. Nur, um schnell zu bemerken, dass Frauen dort im postsozialistischen Albanien nicht ernst genommen werden – der Gatte wird zur Kandidatur genötigt und prompt Abgeordneter. Und wieder stellen sich die gerade aufgezählten Fragen und wieder findet sich keine probate Antwort... Die muss auch Ypi schuldig bleiben, die Schilderung ihres Erwachsenwerdens in den postsozialistischen Wirrnissen aber bezaubert sehr. Und schärft den Blick für die stete Kritik am Bestehenden, die ja zweifellos auch heute noch sehr notwendig ist. In Albanien genauso wie hierzulande.Weitere Infos: www.suhrkamp.de/buch/lea-ypi-frei-t-9783518430347