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MICHAEL ROTHER / NEU!

Wie wenig hätte fehlen dürfen.

MICHAEL ROTHER / NEU!

Wenn man sich schon länger mit Musik beschäftigt, verliert die Bezeichnung "Legende" etwas von ihrem Glanz. Denn nicht alles, was mal für Aufregung sorgte, widersteht dem Neuen, das tagtäglich hinzukommt. Aber es gibt Ausnahmen – eine davon ist zumindest in meinem Kosmos NEU!, die unvergleichliche Kapelle um den 2008 verstorbenen Schlagzeuger Klaus Dinger und den Gitarristen Michael Rother. Zwischen 1972 und 1975 veröffentlichten die beiden drei stilbildende Alben, die weit mehr waren als KrautRock-Phantasmagorien, sondern in ihrer brodelnde Kühle den Weg für Entwicklungen ebneten, die selbst die Beteiligten seinerzeit wohl kaum erahnen konnten. Via Grönland erscheint nun zum 50. Jubiläum der ersten NEU!-LP in diversen Formaten eine üppige Box und so ergab sich die Gelegenheit zu einem (Video-)Gespräch mit Michael Rother, der – nachdem die digitale Kontaktaufnahme zunächst scheiterte - gut gelaunt aus Pisa anrief.

Der inzwischen über 70jährige Rother erweist sich gleich zu Beginn des Interviews als herrlich entspannter, zugleich aber offener und interessierter Gesprächspartner. Nachdem die Verbindungsprobleme gelöst waren und schließlich sogar die Kamerafunktion auf beiden Seiten funktionierte, begann eine ungewöhnlich angenehme Konversation, die auch deshalb besonders war, weil Rothers Antworten seiner Musik glichen – beharrlich mäandern sie um ein Thema, führen aber immer auch auf neue Pfade und (Ab)Wege. Abschweifungen sind dabei nie Ausdruck von Unkonzentriertheit, sondern wesentliches Kommunikationsmittel. Deshalb möchte ich unseren langen Wortwechsel hier nahezu unbearbeitet wiedergeben, denn mir scheint, dass auch durch Rothers Rede ein wesentlicher Teil seiner musikalischen Vorstellungen transportiert wird.
Was für eine Gefühl ist das, wenn Grönland jetzt das NEU!-Werk als Box veröffentlicht? Denkst Du "Wow, ich bekomme auch 40, 50 Jahre später noch die verdiente Anerkennung!" oder ist es eher so "Mein Gott, wie alt bin ich, dass es ich jetzt schon so eine Werkschau hab!"
"Naja, zum einen gab es in den 21 Jahren seit der Wiederveröffentlichung der NEU!-Alben diverse Boxen, die erste NEU!-Box ist 2010 erschienen. Es gab Harmonia- und Rother-Boxen – aber ich will das gar nicht kleiner machen, als es ist: meine Freude ist riesengroß, dass Grönland mit so viel Enthusiasmus alle meine Projekte fördert und in die Welt hinausträgt. Insofern unterstützte ich das natürlich, wenngleich die Arbeit natürlich durch das Grönland-Team geleistet wurde. Aber durch Interviews und das Überwinden technischer Hürden wie eben... wenn ich nicht aktuell in meiner Musik-Software so viele Probleme hätte. Es ist als wenn ich mich in einem dunklen Wald voller technischer Probleme befände. Es ist unglaublich - mein alter Musik-Rechner von Anfang 2000, mit einem uralten Cubase drauf, auf dem ich immer noch gern gearbeitet habe, ist durcheinander. Ich arbeite zwar auch auf einem neueren Rechner mit einem neueren Cubase, aber die vertrauten einfachen Arbeiten in dem alten Programm - das ist jetzt durcheinander. Und da ich hier in Pisa aber keinen Menschen kenne, der da jetzt geeignet wäre – in Deutschland habe ich eine Firma, die hat den Rechner schon mal überarbeitet. Kurzum: ich kämpfe mich hier durch ein Dickicht und wenn wir mit dem Interview fertig sind, werde ich über Steinberg versuchen, ein altes Programm zu installieren, mit dem ich die alten Songdateien in das aktuelle CPR-Format transferieren kann. Hoffentlich. Wenn kompatibel und wenn und wenn und wenn."
Wie war denn das Verhältnis zur Technik bei NEU! ? Hattet ihr bei Conny Plank im Studio das Gefühl, dass die Technik euch Freiräume schafft oder war's ein ähnliches Gefühl wie du es jetzt hast – also dass sie eher Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Kreativität macht?
"Wenn ich an 1971, '72, '73 zurück denke, da waren die Studios ja noch etwas anders ausgestattet als heutzutage. Was ich hier heute so in meinem Bereich habe, ist ja Lichtjahre weiter als alles, was es damals gab. Conny Plank hatte im Studio in Hamburg für die erste NEU!-Platte eine Hall-Platte. Und eine Bandmaschine, die er als Delay-Maschine benutzen konnte. Und das war's. Es gab höchstens noch im Mischpult ein paar Kompressoren, die er eingesetzt hat. Es gab fast keine Technik, die uns hätte begrenzen können. Es gab die Menschen, die die Musik ins Studio gebracht haben und es gab den wunderbaren Tontechniker und Produzenten Conny Plank, der es verstanden hat, unsere Ideen so auf dem Band zu organisieren, dass man das Klangergebnis heute offensichtlich immer noch schätzt. Das lag wirklich nur an dem Talent und nicht an den Maschinen. Heutzutage hat man ganz viele Programme, Klänge, Darstellungsmöglichkeiten – aber naja, man kämpft sich durch den dunklen Wald. Ich hab das Gefühl, diese Programme heutzutage sind in einem so scharfen Wettbewerb miteinander, sind so komplex und überladen, gehen so sehr ins Detail, dass die einfachen wichtigen Arbeiten, die man immer manchen muss entweder gar nicht mehr angeboten werden oder so versteckt sind unter der Vielzahl von Möglichkeiten, die zumindest ich im Leben nie brauche."
Ihr hattet also damals die Idee im Kopf, wie die Musik klingen soll und Conny Plank hat das im Studio versucht auf Band zu kriegen? Es gab doch aber sicher auch einen guten Teil Zufall dabei, oder? Es gibt ja z.B. die immer wieder zitierte Anekdote von der versehentlich rückwärts aufgenommen Gitarrenspur...
Das war mir aber nicht neu. Rückwärtsgitarren kannte ich schon von den Beatles und Jimi Hendrix. Aber wir haben ja anders als etwa die Kollegen von Kraftwerk oder andere nicht konzeptionell in dem Sinne gearbeitet, dass wir am Reißbrett zu Hause schon so was wie ein story-board entwickelt hätten. Und wir haben auch nicht geredet über Musik – wir waren ja auch nicht befreundet. Wir haben sehr erfolgreich und sehr gut zusammen gearbeitet, aber es wurde nicht schon vorher überlegt "da machen wir dies und dann können wir noch das machen", sondern jeder von uns hatte in der Vorbereitung eher Ahnungen. Klaus und ich – auch wenn ich nur bedingt für Klaus sprechen kann, du weißt, er ist nicht mehr unter uns – er hat aber in vielen Punkten andere Ansichten vertreten als ich. Er hat viele Sachen gesagt, denen ich widersprechen müsste, aber darauf will ich mich nicht mehr konzentrieren, sondern eher auf die positiven Einfälle, auf das großartige künstlerische Talent, das er zu NEU! mitgebracht hat und darauf hinweisen, dass wir - anders als viele Leute heute erzählen - im Studio nicht gestritten haben. Wir hatten gar nicht die Zeit zu streiten, sondern wir haben wie zwei spontane Künstler vor einer leeren Leinwand angefangen die Töne wie Farben auf die Leinwand zu werfen. Spontan reagieren, zuhören, was der andere gerade gemacht hat. Wie in dem von dir genannten Beispiel mit dem rückwärts laufenden Band. Das war ein wunderbarer Moment, denn damit hat Conny mich überrascht. Ich war ja im Aufnahmeraum und hab ein paar Melodien gespielt und plötzlich fing alles an, rückwärts zu laufen und ich war natürlich inspiriert davon, weil ich das so liebe. Und die ganze Magie, wenn wir z.B. über ein Stück wie "Hallo Gallo" sprechen, die ist für mich ja immer noch ein Rätsel. Wenn ich "Hallo Gallo" höre, ich spiele es ja auch live, aber wenn ich mir das Original anhöre – ich weiß genau all die Details, aber dass das zusammen gekommen ist zu dieser … ja, es ist wie eine Katze für mich, so rätselhaft und schön. Ich bin ja Katzenliebhaber. Anders ausgedrückt: Wie wenig hätte fehlen dürfen und das Ganze wäre auseinander gebrochen. Es war minimalistisch konstruiert, wir hatten auch keine Zeit. Auch keine Zeit, groß zu reflektieren, was wir noch tun könnten, sondern wir sind wie im Laufschritt durch die Aufnahmen gegangen und nach vier Nächten war dann die gebuchte Studiozeit ja auch aufgebraucht. Mehr Geld hatten wir nicht. Wir legten ja großen Wert darauf, von der Plattenfirma unabhängig zu sein und haben die Studiokosten deswegen aus eigener Tasche vorgestreckt bzw. bezahlt. Es war unsere Absicht, unabhängig zu bleiben, ein Kalkül das auch hätte schief gehen können, weil Klaus und ich sehr arm waren – wir hatten kein Geld und konnten daher nicht sagen: "Naja, wenn's nicht klappt ist's auch egal!", sondern das war ein Risiko. Aber wir beide waren Feuer und Flamme, waren wild entschlossen, Conny Plank war interessiert, mit uns zu arbeiten und da ich Conny ja spätestens seit der Session mit Kraftwerk kannte und auch interessant fand, auch seine Bereitschaft, zu experimentieren, keine Regeln im überlieferten Sinne zu achten im Sinne von "Das hat man noch nie gemacht, das dürft ihr jetzt auch nicht machen." Hinterfragen und alle schrägen Ideen waren erlaubt, es gab keine Begrenzungen, keine Scheuklappen und das war für uns an Conny Plank sehr wichtig. Abgesehen von seinem einfach großartigen Talent. Er war gelernter Tontechniker und er konnte mit den Maschinen arbeiten, war wir nicht konnten. Ich habe – ob ich viel gelernt hab, ist noch die Frage, aber ich habe gerne zugesehen und hab dann in meinem eigenen Tonstudio später oft an ihn gedacht - wie er gearbeitet hat und was ich da vielleicht übernehmen könnte."
Auch wenn ihr, wie Du sagst keine Freunde ward, habt ihr – also Klaus Dinger und Du – Euch perfekt ergänzt. Wenn auch hier das oft kolportierte Klischee stimmt, also dass der eine – Klaus Dinger – der psychedelischere war, der sich für cut-ups und Noise begeistern konnte wogegen Michael Rother eher der minimalistische Melodien-/Harmonien-Liebhaber war, der für Ambient und Schönheit stand.
"Entschuldige, wenn ich lache. Ich weiß, es bietet sich an, uns so in Kategorien einzuordnen. Die Wahrheit ist ein bisschen anders, glaube ich. Wir beide hatten eine weitgehende Übereinstimmung der Bandbreite an möglicher Musik oder Musik die wir machen wollten. Aber jeder hatte Talente auf einer bestimmten Seite des Spektrums. Klaus war eine großartiger Schlagzeuger und ein großartiger Denker und Arbeiter an Musik. Es war sehr inspirierend für mich, mit ihm an Musik zu arbeiten. Und ich hatte wahrscheinlich, das muss ich jetzt als Spekulation ausdrücken, die Fähigkeit, Melodien, Harmonien zu finden und der Musik eine Tiefe zu geben. Klaus war in der rhythmischen Seite sehr stark ausgeprägt, es war aber nicht so, dass ich nicht in der rhythmischen Seite gespielt hab. Und er hat auch auf der eher sensiblen Seite sehr wichtige Arbeiten und Beiträge geliefert. Dieses allgemeine Verständnis, besser Missverständnis, dass bei der "NEU! 75" die eine Seite Rother war und die andere Dinger, das ist Quatsch. Wenn wir kurz über "NEU! 75" reden wollen – das war das Resultat einer Absprache, die wir getroffen hatten. Ich hatte ja nach Veröffentlichung des zweiten Albums schon angefangen, mit Harmonia zu arbeiten und bin darin völlig aufgegangen, hatte also bestimmte Ideen, die ich mit Harmonia nicht umsetzen konnte und Klaus hatte mit zwei Schlagzeugern das La Düsseldorf-Projekt angefangen, weil er – ich glaube das darf ich sagen – sich hinter dem Schlagzeug gefangen fühlte. Er wollte gern vorn am Bühnenrand stehen, er wollte gern Gitarre spielen und das war seine Triebfeder. Deshalb zwei Schlagzeuger, die nach seinen Instruktionen gespielt haben. Ich wollte nur mit ihm arbeiten, er wollte gern das ganze Album mit den beiden Schlagzeugern machen und da war die dann Absprache: "OK – wir machen den Kompromiss, die eine Seite so und die andere Seite so.". Das war der tiefere Grund. Dass ich dann mit "Isi" und "Seeland" erstmal auf der Seite mit Kompositionen, mit klaren Melodien, mit richtigen Melodien zu hören bin, war dann das Resultat meiner Zusammenarbeit mit Harmonia und der Entwicklung in dieser Hinsicht. Ich habe genau so gerne auf "Hero" und "E-Musik" und "After Eight" die Gitarren gespielt wie Klaus wunderbare Sachen auf der ersten Seite gespielt hat. Man kann uns da nicht auseinander dividieren. Es gab im Studio eine Spannung, als er sich nicht an die Absprachen halten wollte, weil er erst mit den Schlagzeugern anfangen wollte. Dann bin ich aber hart geblieben und habe gesagt "Nee, nee, die Absprache gilt. Wir machen das jetzt so." Als Klaus dann gemerkt hat, er kriegt mich nicht über den Tisch gezogen – das muss ich so deutlich sagen – war er genauso konstruktiv wie immer und hat ganz wunderbare Sachen bei "Isi" und "Seeland" und dann natürlich bei seinem Stück auf der Seite, "Leb' Wohl", abgeliefert. Also: die Fähigkeiten waren vielleicht etwas anders verteilt, komplementär auch, mit Überlappung, aber das Verständnis für das Ganze, für die ganze Bandbreite, war bei uns beiden gleichermaßen vorhanden. Ich finde nach wie vor "Hero" ein wunderbares Stück und ein großartiges Beispiel für die Kreativität, für die Kraft, die Klaus in die Musik gebracht hat. Vielleicht hast du gehört - ich habe das Stück ja neulich mit Iggy Pop live aufgeführt. Ich habe einmal den Fehler gemacht, "Hero" mit Musikern zu spielen, mit denen ich das nicht hätte spielen dürfen. Ich spüre da gewissermaßen eine Verantwortung gegenüber Klaus und bereue das deshalb. Ich habe mal zu einem befreundete BBC-Moderator, der auch Iggys BBC-Sendung präsentiert, gesagt: "Iggy Pop würde ich das zutrauen. Von der Persönlichkeit her und von seiner Ausdrucksstärke." Und dieser Gedanke driftete so über Jahre hin und her, und plötzlich kriege ich die Nachricht, Iggy hat das Stück schon live in Paris gespielt. Und dann hat er mich eingeladen "Wir kommen nach Deutschland, hättest du nicht Lust mit uns zu spielen?" Das habe ich dann mit großer Freude gemacht. Kleine Beule, aber..."
Aber die Beule passt, denn ich habe mich auch gefragt, welchen Einfluss Rother, Dinger, NEU! auf die Musiker genommen haben, die da nach ihnen kamen. Vorher aber noch kurz zu Harmonia und La Düsseldorf, zu den Dingen, die sich aus NEU! entwickelt haben. NEU! hat Wurzeln, die vielleicht bei Kraftwerk liegen, vielleicht auch woanders, da gibt’s Schnittmengen zu Guru Guru, zu Can - mir fehlen eigentlich nur Überschneidungen mit Faust in dieser Gemengelage – wie muss ich mir das als etwas später Geborener vorstellen? Hat damals wirklich jeder mit jedem gespielt? War es so, dass man sich personell permanent ausgetauscht hat?
"Ich will deinen Enthusiasmus da nicht abwürgen, aber: so viele Menschen gab es für uns gar nicht. Im Gegenteil: es gab eigentlich fast niemanden, mit dem wir z.B. unsere Ideen live spielen konnten. Klaus und ich waren nach der Veröffentlichung des ersten Albums ja in der Situation, dass es eine Nachfrage gab und wir auch gerne live spielen wollten, aber zu zweit das Thema natürlich nicht auf die Bühne bringen konnten. Wir haben's mal versucht, ich glaube ein oder zwei Konzerte. Ich hatte gestrichenen Bass und Wassergeräusche oder so was auf Band vorbereitet, aber die Leute waren damals absolut nicht bereit, Konserven zu akzeptieren. "Das ist nicht Live-Musik!" Und es machte auch nicht so viel Spaß. Ich hatte nur meine Gitarre, Klaus nur das Schlagzeug, der Klang war dünn. Und dann haben wir gezwungenermaßen rumgeschaut – Eberhard Kranemann war einer, Uli Trepte von Guru Guru, den du nanntest, war ein anderer. Aber Uli Trepte, ein sehr sympathischer und interessanter Musiker, hatte eine ganz andere Vorstellung von Rhythmik und von Groove: "laid back". Und Klaus und ich wollten nach vorne rennen! Eberhard Kranemann wiederum war eher ein Dekonstruktivist, also jemand, der alles zerhauen wollte und das half mir überhaupt nicht. Ich hätte jemanden gebraucht wie Ralf Hütter, der wäre prima gewesen. Jemand, mit dem ich mir musikalische Bälle hätte hin und her werfen können. Und deswegen waren wir beide – Klaus und ich – auch recht frustriert. Wir haben mit den beiden 6 oder 7 Konzerte gespielt und dann aufgegeben. Das ging nicht. Lustigerweise war der Grund, warum ich dann nach Forst zu den Cluster-Musikern gefahren bin der, dass ich mich an ein Stück speziell erinnerte. Wir kannten uns natürlich – wir hatten mal ein Konzert gemeinsam mit Kraftwerk, ein sehr bedeutendes Konzert, bei dem es fast Schlägereien gab, aber das führt in der begrenzten Zeit vielleicht zu weit. Das Stück hieß "Im Süden" - ich glaube, das ist vom zweiten Cluster-Album – und da gibt es so eine Gitarrenmelodie auf vier offenen Saiten, vier Töne und daneben sind die elektronischen Wellen und Wolken, aber diese vier Töne, die haben mich angezogen. Ich habe mir gedacht: Da kann ich anknüpfen. Das ist etwas, was eventuell funktionieren könnte. Also bin ich mit meiner Gitarre nach Forst gefahren und hab gejammt. Erst mit Roedelius, hab mich total verliebt in die Musik, denn das war plötzlich die Kombination, die spontan live auch funktionierte und ohne Studiotechnik es uns ermöglichte, sofort eine gültige, detaillierte, vielschichtige Musik abzuliefern, zu spielen. Das war ein für mich ganz wichtiger Schritt, diese drei Jahre mit den beiden Musikern [Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius] in Harmonia, die mich weiter gebracht haben in meiner Entwicklung. Aber dass wir jetzt mit jedem damals Sessions hatten – das galt vielleicht für andere, so in München oder Berlin, mehr. Wir waren – ja, "picky" sagt der Engländer. Wir stimmten darin völlig überein, es kommt nur das Beste in Frage... Wir waren allein. Und wenn du einen Schritt weiter gehst: es war ja sogar logisch, dass wir allein waren. Denn wir wollten ja anders sein, wir wollten uns absetzen. Mir ging es darum, eine völlig neue Identität in der Musik zu schaffen, meine Identität zu entwickeln. Und die sollte sich unterscheiden von allem, nicht nur von den Engländern, Amerikanern, sondern auch von allem, was so in Deutschland lief. Dass ich die Fähigkeit von Jackie Liebezeit z.B. natürlich gesehen habe und ihn später dann gewinnen konnte, auf meinen ersten vier Solo-Alben mitzumachen, das war auch ein singuläres Ereignis. Wie dann bei Brian Eno. Aber wir reden ja jetzt über mehrere Jahre, es war nicht so, dass ständig Menschen zur Tür rein kamen, mit denen man wunderbare Musik machen konnte. Es war tatsächlich jeder für sich zu Gange, Klaus in Düsseldorf, ich in Forst mit Harmonia und was draußen in der Welt passierte, kriegte man gar nicht mit – kann man sich heute ja gar nicht vorstellen, in einer Vor-Internet-Zeit, in einer Zeit, in der sich die Musik-Presse noch viel viel weniger als heute um Deutschland, um deutsche Musik kümmerte – es gab kaum Journalisten, die sich für deutsche Musik interessierten, da gab es Winfrid Trenkler und etwas später dann noch Ingeborg Schober aus München – es gab wirklich kaum Menschen."
Ihr habt dann enormen Einfluss gehabt auf Post-Punk und New Wave. Zumindest wenn man den Leuten Glauben schenkt, die sich auf euch berufen, wenngleich man es manchmal deren Musik gar nicht so sehr anmerkt. Auch dieser Kreis ist ja sehr illuster – geht bei Joy Division oder vielleicht sogar schon bei David Bowie los und endet bei Mogwai und Leuten, die jetzt auf der Tribute-Platte in der Grönland-Box Remixe eurer Musik machen, und noch gar nicht geboren waren, als die Originale erschienen. Hast Du zu den Nachfolgern – nennen wir sie ruhig mal so – direkten Kontakt, arbeitest du heute mit Leuten aus solchen Zusammenhängen?

"Stuart Braithwaite von Mogwai kenne ich etwas besser – wir haben uns mehrere Male auf ATP-Festivals, wo wir gespielt haben, getroffen. Ich weiß, dass ich ihn geärgert habe, weil ich immer vergessen hatte, dass er der Gitarrist ist. Ich dachte immer "Bist du der Schlagzeuger?" - "Nein ich bin der Gitarrist!" Und er hat ja auch ein schönes Stück gemacht jetzt. Oder Stephen Morris - du führst gerade Joy Division aus – während wir hier sprechen kam gerade eine Nachricht von meinem Agenten: Stephen Morris ist eingeladen, im November in London bei meinem Konzert mitzumachen. Wir hatten letztens ein erstes persönliches Gespräch über Zoom und haben uns sehr angeregt unterhalten - ein sehr sympathischer Mensch - und ich habe ihm auch schon "angedroht", ihn auf die Bühne zu bitten, um vielleicht bei ein oder zwei Stücken in irgendeiner Form zu trommeln, mit Hans Lampe zusammen, damit das ein richtig schöner Abend wird. Paul Weller hat mich auch angesprochen, vor zwei Wochen oder so. Wir hatten mal Kontakt, als ich für ihn einen Remix gemacht habe - 11 Jahre ist das komischerweise schon her, ja ist alles verrückt, wie die Zeit davonrennt – und er ist auch wild entschlossen in London beim Konzert dabei zu sein. Ich überlege jetzt – und das ist ein Teil meiner Verzweiflung – die Daten von dem Remix, die ich in dem alten Rechner habe, jetzt neu aufzubereiten, damit wir das Stück "Around The Lake" da spielen können. Vielleicht spielt er auch noch bei ein, zwei anderen Stücken mit. Also: abgesehen von Brian Eno, den ich '74 kennengelernt habe und telefonischem Kontakt mit David Bowie '77 gab es erstmal keinen großen Kontakt zu ausländischen Musikern. In den 80ern gab es indirekten Kontakt, weil Bands wie z.B. Ultravox bei Conny Plank aufgenommen haben und Conny mir erzählt hat, dass die ganz genau wissen wollten, wie ich arbeite – das hört man dann auch ein bisschen. Springen wir in die 90er: als dann Stereolab erschienen und man dachte: "Die None kenn' ich doch!" Und Sonic Youth, die dann "Two cool chicks listening to NEU!" veröffentlicht haben auf "Ciccone Youth" [dass es "cool rock chicks" sind, wird nur Pedanten stören!], aber das sind alles so... wie so ein spotlight, aus der finsteren Nacht herausgesuchte Elemente. Dazwischen gab es großes Nichts, also an Kontakten oder Informationen, was so in den Köpfen der Menschen vor sich ging. Wenn sie überhaupt unsere Musik hören konnten, denn Metronome hatte ja in den frühen 80ern die Herstellung der NEU!-Alben eingestellt – es gab einfach keine Nachfrage."
Naja – über Amiga konnte man eure Platten ja leider nicht erwerben, deshalb habe ich mir in den frühen 90ern das NEU!-Werk im Rheinland auf den Flohmärkten zusammengekauft.
"Sehr gut. Ich hatte gerade gedacht, hoffentlich sagt er jetzt nicht "Ich hab mir die bootleg-CDs gekauft"!"
Nein! Die Original-Platten zirkulierten in unterschiedlichsten Pressungen ja im 2-Hand-Bereich. Man liest aber auch, dass ihr in den 70ern ganz gut verkauft habt?
"Ja. Natürlich waren es keine Mainstream-Zahlen, aber im Vergleich zu z.B. Harmonia, dem Projekt, das ich genauso liebte, war NEU! auch kommerziell durchaus erfolgreich. Sogar recht erfolgreich."
Heute würde man von geschicktem Marketing sprechen, aber euer grafischer Minimalismus und überhaupt die Idee, eine Band NEU! zu nennen, war auch damals schon wirklich gut, oder?
"Der Name ist Klaus Dingers Beitrag, den ich anfangs gar nicht so schätzte. Also den Namen NEU! fand ich damals zu kühl, zu cool."
Aber vielleicht hat euch gerade das auch wieder international interessant gemacht. Denn besonders die Briten haben doch diese "German coolness" sicher geschätzt?
"Es gibt ja zwei Ebenen. Meine Ebene damals '72 – ich erinnere mich als Klaus mit der Idee kam, dachte ich: "Och, nee! Eigentlich nicht." Aber ich hatte nichts besseres anzubieten. Ich habe mit Begriffen für Musik nie sonderlich viel Erfolg gehabt, auch in späteren Jahren. Wenn es darum ging, einem Musikstück einen Namen zu geben, brauchte ich oft die Hilfe, die Inspiration von Freunden, die sagten: "Das klingt doch wie Katzenmusik." Und natürlich hat der Erfolg Klaus recht gegeben. Wobei man auch das als eine Gesamtheit sehen muss. Es macht genauso wenig Sinn, die Instrumente auseinander zu dividieren und zu sagen "Die Melodien sind großartig, aber das Schlagzeug ist doof." oder "Das Schlagzeug ist großartig, aber sonst hör' ich da gar nichts." Die Magie ist, wenn es zusammenkommt. Und die Musik mit einem guten Cover hat wunderbar funktioniert. Dasselbe Cover mit einer weniger originellen Musik wäre vergessen worden."
Du sagtest ja schon vorhin den schönen Satz "Wie wenig hätte fehlen dürfen" und das gilt sicher auch für den Bandnamen, das artwork und auch für die Songtitel, die ja sogar geeignet waren, neue Bands danach zu benennen, wenn ich z.B. an Negativland denke. Bei denen, die sich von euch maßgeblich beeinflusst fühlen, fehlen mir aber die ganzen PostRocker. Also die ganze Chicago-Szene um Tortoise, die Montrealer Leute um Constellation, God Speed... & Co. - ist das eine Fehleinschätzung oder ist das tatsächlich so?
"Du fragst den Falschen. Ich muss zugeben, ich habe ja immer sehr introspektiv gelebt. Ich hab mich mit meiner Musik befasst und hab erstens weil's kein Internet gab, gar nicht mitgekriegt, was passierte und als es dann möglich war und auch heutzutage bin ich eigentlich der Letzte, der von irgendeiner tollen Band erfährt. Meistens sind das Zufälle, wenn ich dann auf demselben Festival wie eine Band spiele und dann denke "Oh! Ja!". Mouse On Mars habe ich so kennengelernt und einige andere auch. Aber ich schaue da nicht aktiv herum auf der Suche nach Anregung oder Zerstreuung. Natürlich verarbeite ich auch Informationen, die ich aufgreife – das kommt ja aus dem Leben, aus dem ganzen Spektrum. Das kann aus der Natur, aus der Kunst, aus dem Film oder sonst was sein. Ich bin ja kein Eremit, ganz im Gegenteil sogar. Aber wenn's um die Musik geht, war ich immer jemand, der Einflüsse reduzieren wollte. Insofern ist es auch logisch, dass ich nicht derjenige bin, der dir sagen kann – von Tortoise weiß ich, dass sie unsere Musik mochten. Da waren Interviews, in denen ich das mal gelesen hab. Ich glaub, wir haben uns auch mal getroffen auf einem Festival vor vielen Jahren. Aber diese Spurensuche ist vielleicht eher was für dich."
Deswegen versuche ich ja, mögliche Fehlstellen zu füllen. Wenn du sagst, du hast dich mit Tortoise durchaus mal unterhalten und weißt, dass sie eure Musik schätzten, ist das ja auch eine Information. Eine eher unbekannte deutsche Band hat mir in den 90ern auf meine Frage, wie sie Steve Albini als Produzenten gewonnen haben, eine verblüffend einfach Antwort gegeben: "Naja, der hat ja 'ne Faxnummer. Wir haben ihn angefaxt und einfach gefragt." Und so hätte ich mir auch vorstellen können, dass ein John McEntire mal eine Mail an Michael Rother schickt und fragt: "Hast du nicht Zeit, was mit uns zu machen?"
"Da kam irgendwie nicht so viel. Ich habe ein oder zwei Remixe gemacht, aber dafür bin ich jetzt nicht so richtig bekannt. Sonic Youth habe ich 2008 kennengelernt, als ich drüben war und mit Steve Shelley Aufnahmen im Sonic Youth Studio gemacht und dort mit Thurston Moore gesprochen habe. Der hat mich ja begleitet bei einem Konzert in London vor einigen Jahren. 2016 vielleicht oder 2017. Da hat er bei zwei NEU!-Stücken schräge Gitarre gespielt und die Leute waren wirklich hingerissen. Er hat auch einen sehr schönen Solo-Set als opener gemacht. Also: es gibt diese Begegnungen. Oder mit der Sängerin von Stereolab – die habe ich auch vor so 5, 6 Jahren bei einem Konzert in Norwegen, ganz weit oben, kennengelernt. Auch eine sehr interessante Person. Aber das sind alles so Begegnungen, die mehr durch Zufall passieren."
Wie kommt's eigentlich, dass du jetzt ein Konzert gemeinsam mit den Neubauten spielst? Oder zumindest an einem Abend auf einer Bühne mit denen bist?
"Der Promoter in Kopenhagen, für den ich schon 2014 gespielt habe – damals als double-header mit Tangerine Dream, nein, sogar als triple-header mit Dieter Moebius – ist großer NEU!-Fan. Und der wollte auch Vittoria Maccabruni und mich unbedingt holen, um unser neues Album "As Long As The Light", das im Januar bei Grönland erschienen ist, zu präsentieren und der ist immer daran interessiert, dass ich spiele und Kopenhagen scheint auch ein sehr gutes Pflaster für mich zu sein. Die Leute waren immer sehr enthusiastisch, sehr glücklich. Und wie er an die Neubauten gekommen ist, weiß ich nicht. Vielleicht hat ihm auch das "NEU" in Neubauten gut gefallen [lacht]. Ich habe mit Blixa gesprochen und auch mit Jochen Arbeit und mir ein Konzert angehört – da waren sehr schöne Sachen dabei. Also: die Zusammenführung von NEU! und Neubauten oder Michael Rother und Neubauten war das Ergebnis eines ziemlich größenwahnsinnigen Gedankens oder Wunsches des Promoters. Es war eine beeindruckende Venue, 2000 Leute – wenn die dann aufstehen und standing ovations machen am Ende, das hat man nicht alle Tage."
Lass uns auch noch über die "mittlere" NEU!-Phase sprechen, die bei mir – und da bin ich keine Ausnahme – ein bisschen untergegangen ist. Also die "NEU! 4" oder "NEU! '86" ist ja selbst in der Grönland-Box in einer sagen wir mal heterogenen Fassung enthalten, die sich deutlich von der auf Captain Trip unterscheidet.
"Möchtest du die Ur-Geschichte hören? Klaus hatte seine sehr erfolgreiche Arbeit mit La Düsseldorf in den späten 70ern, frühen 80ern und ich gleichfalls mit meinen Solo-Sachen und da war es irgendwie gar nicht so abwegig – manchmal fragen mich die Leute "Wieso habt ihr da nochmal zusammen gearbeitet? Warum gab es überhaupt das Interesse?" Ich hatte 6 Soloalben gemacht und dachte "Ja". Vielleicht waren's nicht 6, vielleicht waren's nur 5 - aber natürlich könnten wir nochmal einen Versuch starten, unsere Ideen als NEU! Mitte der 80er nochmal auf Band zu kriegen. Das war ein langwieriger Prozess, anders als in den 70ern. Ein ganz wesentlicher Unterschied war, dass sowohl Klaus als auch ich ein eigenes Tonstudio besaßen, eigene professionelle Aufnahmegeräte, die uns unbegrenzte Zeit zur Verfügung stellten. Ich habe das vorhin schon erwähnt, wir waren früher ja gezwungen, so im Laufschritt zu arbeiten, hatten keine Zeit, groß zu reflektieren, abzuwägen und "Ach!" und "Vielleicht!" und "Könnte man nicht"... Mitte der 80er war das eben alles anders und wir haben einige gute Ideen zusammen getragen, aber es irgendwie dann doch nicht geschafft, zu einem Ende zu kommen. Zuletzt haben wir noch ein paar Wochen bei mir in Forst im Studio gesessen und ich erinnere mich, es waren – ich muss das der Wahrheit zuliebe offen aussprechen – auch alberne Auseinandersetzungen darunter. Klaus und ich nebeneinander am Mischpult: "Mein Mix ist aber ein Drittel dB lauter!" Jeder ist dann dickköpfig und denkt "Ich lass mich jetzt nicht über 'n Tisch ziehen" und "Meine Vorstellung ist besser!". Kurz und gut: wir haben dann irgendwann eingesehen, dass wir das nicht abschließen konnten und haben die Bänder versiegelt. Klaus war zu dem Zeitpunkt schon ein bisschen, ähm, …, ähm, ein bisschen paranoid kann man fast sagen. Er hat mir, glaube ich, auch in seiner schlimmsten paranoiden Zeit getraut. Er hielt mich, das ist vielleicht auch seine sentimentale Ader, für eine ehrliche Haut. Vielleicht doof, vielleicht hielt er mich für dumm, dass ich die Größe von NEU! oder seine Größe nicht richtig einschätzte, später. Der Wahrheit zuliebe kann man auch hinzufügen: er hat ja auf seiner Webseite von über 1000 LSD-trips gesprochen, die er genommen hat. Und die haben auch sicher Auswirkungen auf seinen geistigen Zustand gehabt. Aber – um auf "NEU! 86" zurück zu kommen – wir haben die Bänder dann versiegelt und aufgeteilt. Obwohl ich die alle bezahlt hatte, habe ich ihm die Hälfte der Bänder mitgegeben. Und haben dann die Absprache getroffen: "Irgendwann, wenn wir uns beide richtig fühlen, treffen wir uns und arbeiten weiter und beenden das Projekt." Darüber vergingen dann wieder Jahre, er hat Sachen gemacht, ich hab dann irgendwann auch mein eigenes Label gegründet, weil die Plattenfirmen meine Sachen nicht mehr veröffentlichen wollten, Ende der 80er, Anfang der 90er. Und irgendwann kam dann dieses Fax von Klaus. Damals schickte er handgeschriebene Faxe, seitenlang, groß, wild: "Herzlichen Glückwunsch, morgen kommt in Japan "NEU! 4" heraus." [lacht] Heutzutage kann ich darüber lachen, damals konnte ich das gar nicht. Er bot mir an, die Hälfte des Vorschusses zu schicken, wenn ich den Vertrag unterschreibe. Ich habe gesagt: "Klaus, so geht das gar nicht. Erst müssen wir das Album nochmal komplett zusammen fertig stellen. Denn das, was du da gemacht hast, ist nicht meine Vorstellung."
Entschuldige, wenn ich dich unterbreche – aber das war also keine abgestimmte Fassung, kein gemeinsamer Mix?
"Nein. Es war nicht legitimiert. Es war das, was Klaus im stillen Kämmerlein... Ich halte mich ja immer zurück mit Kritik an Klaus, aber er war verzweifelt. Er brauchte auch das Geld. Und er war auch künstlerisch, glaube ich, isoliert und vereinsamt und brauchte Anerkennung. Und dieser Fan - der Labelbetreiber von Captain Trip war ein glühender Fan, der hat sich später bei mir persönlich entschuldigt für diese Geschichte – der glaubte, oder gab vor zu glauben, dass Klaus berechtigt sei, Verträge für NEU! abzuschließen. Weil er das haben wollte. Und Klaus wollte das Geld, er hat dann ja auch Konzerte in Japan gegeben. Das war eine sehr bittere Phase, in der Klaus und ich dann ewige Korrespondenz führten. Er war, glaube ich, dann gar nicht mehr in der Lage, das Geld zu teilen - er hatte Schulden und das Geld war dann auch weg. Viel vordringlicher und genauso ärgerlich war, dass wir uns in den 90ern nicht verständigen konnten über eine legale Veröffentlichung der NEU!-Alben. Denn zu der Zeit gab es meterweise bootleg-CDs in Städten wie New York oder Sidney. In beiden Städten habe ich das persönlich gesehen und natürlich haben die keinen Cent, keinen Pfennig Tantiemen gezahlt. Und es war schlechte Qualität, teilweise. Es war ein recht dunkles Jahrzehnt, die 90er. Bis dann Herbert Grönemeyer aus heiterem Himmel an uns heran trat und sein Label mit NEU! starten wollte. Etwas, womit niemand mehr rechnen konnte, nachdem Klaus auch Daniel Miller abgelehnt hatte und Tim Renner von Motor Music."
Wobei die Frage bleibt – du hast das gerade versucht, mit seiner Persönlichkeitsstruktur zu erklären – warum Dinger sich berufen fühlte, für die Band NEU! zu sprechen.
"Er hat sich nicht berufen gefühlt, das war nicht der Fall. Er war verzweifelt. Er brauchte Geld. Und er brauchte ein Ventil, um irgendwo anzuknüpfen. Und was hatte er? Er hatte was von NEU!. Es war dann nicht die Qualität, die ich mir vorstellte, es waren auch nicht alles Erste-Generation-Bänder, die er verwendet hatte. Und ich hab dann, als wir 2008, nach seinem Tod, darüber nachdachten, eine NEU!-Werkschau-Box zu veröffentlichen, mit seiner Witwe, mit seiner Erbin, Miki Yui, sehr einvernehmlich gesprochen und hab gesagt: "Ich werde das jetzt überarbeiten und lege dir das dann vor." Ich wollte das natürlich nur mit ihrem Einverständnis machen. Ich hab dann ein halbes Jahr lang höchst intensiv an den Original-Bändern gearbeitet und ich behaupte - und ich hoffe, dass das auch stimmt – dass ich bei dieser Arbeit anders als Klaus mehr auf eine Balance geachtet habe. Eine Balance im Geiste - "Wie würde Klaus jetzt entscheiden?" - und nicht die Gelegenheit zu nutzen "Michael Rother hier, Michael Rother", wie das umgekehrt bei dieser Japan-Version von ihm geschehen ist. Aber das war eben auch das Resultat seiner Nöte. Das ist die kurze Zusammenfassung eine langen, langen Geschichte."
Nun habe ich diese Captain Trip-Fassung nicht wirklich im Ohr – man muss das vielleicht auch nochmal vergleichend hören - aber die Fassung von "NEU! 86" auf der neuen Box ist tatsächlich sehr ausgewogen. Auf jeden Fall ist der Dinger-Touch dort nicht verloren gegangen. Auch wenn ich dieses Album, das muss ich ganz ehrlich sagen, für euer am wenigsten fokussiertes halte. Du hast gerade beschrieben, wie das im Studio gewesen ist und das ich glaube auch in den neuen Fassungen immer noch zu hören: ihr seid nicht richtig auf den Punkt gekommen. Die Ideen sind sicherlich da, aber nicht so konsequent zu Ende gearbeitet wie vorher.
"Die Kritik kann ich durchaus akzeptieren. Ich schaue ja nie auf Alben als ein ganzes, sondern ich guck mir einzelne Stücke an. Einzelne tracks und finde die gelungen oder attraktiv, weiterhin. Und ich finde, dass auf "NEU! 86" auch Stücke enthalten sind, die hörenswert sind. Aber es war einfach wie eine Wunde, die musste verheilen. Und da musste ich musikalisch was retten, was richten. Dass ich deswegen die Musik jetzt neu erfinden wollte, war ja nicht die Absicht. Ich wollte versuchen, das in guter Qualität ausgewogen darzustellen, was wir Mitte der 80er im Sinn hatten. Und die Kritik, dass wir da nicht fokussiert waren – ich hab's ja schon erklärt, dass einiges, was scheinbar ein Vorteil war, nämlich eigenes Studio, unbegrenzte Arbeitszeit, für uns gar nicht hilfreich war. Es wäre besser gewesen, zu sagen "OK, damit bin ich jetzt noch nicht ganz glücklich, aber wir müssen jetzt zu einem Ende kommen."
Letzte Frage: Wie sehr bedauerst du es, dass du nicht auf Bowies "Low"-LP gespielt hast?
"Uh. Ähm, gar nicht. Das mag irgendwie unwahrscheinlich klingen, aber ich hatte damals ein sehr enthusiastisches, schönes Gespräch mit David und ich war auch bereit. Aber ich war ja nie Bowie-Fan, im Gegensatz zu Klaus - Klaus Dinger war Bowie-Fan. Aber er wollte halt meine Gitarre haben. Ein halbes Jahr vorher war Brian Eno ja bei uns in Forst zu Besuch und hat davon wohl auch einiges erzählt. Ich war also nicht überrascht von dem Anruf. Aber als dann die dritte Person aus dem Management über Geld und Verträge und sowas reden wollte und ich eine sehr hippie-eske Antwort gegeben habe – so nach dem Motto "Mach dir keine Sorgen, wenn die Musik gut ist, kriegen wir das alles problemlos hin." Das war meine Überzeugung. Ich wollte die ja nicht über 'n Tisch ziehen. - kam dann wieder ein Anruf kam und man sagte "Wir brauchen dich nicht in Berlin." Da dachte ich "Irgendwie macht das keinen Sinn, aber OK." Ich war glücklich mit der Arbeit an meinem zweiten Solo-Album "Sterntaler", war also leicht mit anderen Dingen beschäftigt. Es war ja die komische Geschichte, das David Bowie über 20 Jahre später in Interviews sagte, ich hätte seine Einladung ausgeschlagen. Das ist auch der Grund, warum ich denke, dass da irgendwas auf seiner Seite, in seinem Team, passiert ist. Wenn man noch bedenkt, dass seine Verkaufszahlen drastisch abstürzten – seine Berlin-Phase war ja damals gar nicht populär bei den Fans, im Gegensatz zu heute – kann man Argumente für meine Vermutung ziehen, dass da irgendjemand, der mit Geld zu tun hatte, nicht so daran interessiert war, eine Zusammenarbeit mit diesem verrückten Deutschen zu organisieren. Wieder so einer, der noch unkommerzieller ist vielleicht – und alle werden arbeitslos. Das ist eine mögliche Erklärung. Er hatte mich dann zwar noch eingeladen, ihn in New York zu besuchen, aber dazu ist es nicht gekommen."
Ein Blick auf die Uhr ließ uns an dieser Stelle das Interview beenden – auch wenn ich wohl noch bis in den späten Abend dem GedankenFluss des großen Michael Rother hätte folgen können. Der Mann ist nach wie vor hellwach, offen und interessiert – und er macht phantastische Musik. Wie schon die ganzen letzten 50 Jahre.

Weitere Infos: www.michaelrother.de Foto: Peter Lindbergh


Oktober 2022
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