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ANNIE HAMILTON

Die kleine große Zeitkapsel

ANNIE HAMILTON

In ihrer australischen Heimat gilt Annie Hamilton spätestens seit der Veröffentlichung ihrer Solo-Debüt EP mitten in der ersten Pandemiewelle von 2020 als Next Big Thing in Sachen psychedelischen Indie-Pops. Dabei geht ein wenig unter, dass es sich bei Annie keineswegs um eine gerade aus dem Ei geschlüpfte Newcomerin handelt – denn von 2012 bis 2016 war Annie bereits als Gitarristin (und Designerin!) des inzwischen zum Duo geschrumpften Folk-Pop-Projektes Little May tätig. Danach machte sich Annie zunächst mal über ihre Website als Designerin für nachhaltig produzierte, Gender-neutrale Mode-Produkte selbständig. Noch bevor sie sich dann daran machte, eigene Songs zu fabrizieren, spielte sie Gitarre für das Projekt Jack River ihrer Freundin Holly Isabella Rankin. Letztendlich bedeutet das, dass Annie's brillantes Debütalbum „The Future's Here But It Looks Kinda Like The Past“ keineswegs meisterlich aus dem Himmel gefallen ist, sondern in der Pandemie mit Übersicht, Plan, Vision und handwerklichen Geschick zu einem bemerkenswerten, psychedelischen Indie-Pop Kleinkunstwerk ausgestaltet wurde.

Das Album entstand dann im Lockdown – der in Australien ja besonders konsequent gehandhabt wurde. Wie hat Annie denn die ganze Situation wahrgenommen?

„Na ja, mittlerweile fühlt sich das ja fast schon normal an“, zögert sie, „aber als ich angefangen hatte, die Scheibe zu schreiben, sag das anders aus. Ich hatte ein paar Ideen als Demos skizziert und wollte gerade als Backing-Sängerin für The National in Australien auf Tour gehen. Das wurde dann 2 Tage vor der ersten Show abgesagt. Ich habe mir dann gesagt, dass ich jetzt ja erst Mal Zeit zur Verfügung hatte und etwas sinnvolles damit anfangen wollte anstatt mich darüber aufzuregen, dass die Tour abgesagt worden sei. Also entschloss ich mich, erst mal alles, was ich angesammelt hatte wegzuschmeißen und dann neu mit dem Schreiben anzufangen. Ich dachte daran, eine Art kleiner Zeitkapsel musikalisch einzufangen – weil ich dachte, dass die Sache mit der Pandemie in ein paar Monaten vorbei sein würde. Schließlich dauerte das aber dann 18 Monate und wie es sich herausstellte, dokumentierte, kommentierte und verarbeitete ich auf diese Weise mein Leben in den letzten zwei Jahren."

Das heißt dann also, dass aus der kleinen Zeitkapsel eher eine große wurde, oder?

„Da hast Du wohl recht“, pflichtet Annie bei, „ich hatte das Gefühl, dass wir einerseits zwei Jahre verloren haben – zwei Jahre in denen ich all diese Sachen machen wollte. Und nun stelle ich dann fest, dass ich jetzt plötzlich zwei Jahre älter bin und all diese Sachen eben nicht gemacht habe. Andererseits zog sich alles irgendwie hin während man im Lockdown saß und jeder Tag sich wie der andere anfühlte und es keinen Austausch mit der Außenwelt und speziell anderen Menschen gab. Das bringt Deine Wahrnehmung der Zeit ganz schön durcheinander – alles zeiht sich und scheint nie enden zu wollen. Diese beiden verschiedenen Arten, die Zeit wahrzunehmen machte ich dann zum Thema in vielen der Songs."

Und zu welchem Schluss ist Annie dabei gekommen?

„Vielleicht sind uns also zwei Jahre unseres Lebens gestohlen worden – aber das ist dann eben das Leben“, philosophiert sie, „das Leben ist nun mal unerwartet und seltsam. Die kleinen Dinge machen dabei das Leben aus – zum Beispiel mit Deiner Hausgemeinschaft Brot zu backen. Vielleicht hatten wir also in dieser Zeit nicht die Erfahrungen sammeln können, die wir zu sammeln vorhatten – aber wir haben total andere Erfahrungen gemacht, die vielleicht zu total unerwarteten, positiven Silberstreifen und positiven Dingen geführt haben. Die Trauer um den Verlust von Zeit in einer bestimmten Lebensphase kann ganz schön deprimierend sein – aber andererseits gibt es so viele andere Arten, dieses Thema zu beleuchten, dass es nicht gar nicht deprimieren muss."

Annies Musik ist auch alles andere als deprimierend. Stattdessen entwickelte sie eine abenteuerliche Mixtur aus Indie- und Dreampop, Pschedelia, Glamrock und New Wave zu ihrem ureigenen Mix. Was hat Annie musikalisch inspiriert?

„Also ich denke, dass ich eine breite Palette von Einflüssen habe“, überlegt Annie, „ich weiß gar nicht mehr, was ich mir angehört habe, als ich die Musik schrieb. Ich mag 90's Grunge-Rock aber auch Indie Musik aus den frühen Nullerjahren – denn damit bin ich aufgewachsen. Aber wenn ich Musik schreibe, schalte ich eigentlich alles andere aus. Ich tendiere dazu, mich in einer Blase einzuschließen und herauszufinden, was ich cool finde ohne mich auf Einflüsse zu beziehen."

Das passt dann ja auch wieder hervorragend zur Zeitkapsel-Theorie. Zunächst mal spielt Annie nur einige Showcases in Europa – verspricht aber, nach ihrer Tour durch Australien auch in unseren Breiten auftreten zu wollen.

Aktuelles Album: The Future's Here But It Looks Kinda Like The Past (PIAS Australia)

Foto: Xinger Xanger

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