Joe Henry ist ein Musiker mit vielen Gesichtern: In den 80ern tauchte er als Singer/Songwriter mit einer Antenne für den Zeitgeist auf der Bildfläche auf, ab Mitte der 90er verlegte er sich aufs experimentelle Frickeln, bevor er vor einigen Jahren sein Faible für jazzige Ausreißer entdeckte und bisweilen auf seinen eigenen Platten mehr musikalischer Direktor denn Protagonist war. Jetzt veröffentlicht das As im Ärmel der US-Roots-Szene sein 13. Album, "Invisible Hour".
Mit der sagenhaft guten Platte setzt der inzwischen 53-jährige Tausendsassa erneut auf einen wunderbar naturbelassenen, gefühlsechten Akustiksound im Dunstkreis von Folk und Country, wenngleich die Farbtupfer seiner hochkarätigen Mitstreiter dieses Mal ein wenig dezenter ausfallen und Henry seine eigene Performance wieder deutlicher in den Mittelpunkt rückt. "Die beiden vorangegangenen Alben, ´Reverie´ und ´Blood From Stars´, hatte ich als konzeptionelle Band-Ideen entworfen", erklärt er beim Treffen mit WESTZEIT vor seinem feinen Auftritt in Bremen Ende Mai. "Bei der neuen Platte sollte dagegen die Stimme - und wenn ich Stimme sage, meine ich nicht meine eigene, sondern ganz allgemein das, was die Musik transportiert – frei und ungehindert wahrnehmbar sein. Bei ´Reverie´ hatten wir die Umweltgeräusche, die durchs offene Fenster zu uns ins Studio drangen, bewusst mit in den Gesamtsound eingebunden. Dieses Mal habe ich meinem Stammtoningenieur Ryan Freeland nur eines gesagt: ´Lass die Platte so schön (ich glaube, ich sagte sogar romantisch) wie irgend möglich klingen!´"Auf "Invisible Hour" streift Henry mit den jazzigen Bläsersätzen seines Sohnes Levon die frühen Großtaten Van Morrisons und das Spätwerk Bob Dylans, in erster Linie aber ist der Songzyklus über Liebe und Ehe die destillierte Essenz von Henrys eigenem Schaffen der letzten rund 30 Jahre. Dass ihm trotz brillanter Platten und viel Kritikerlob der kommerzielle Durchbruch stets versagt geblieben ist, verwundert den seit vielen Jahren in Kalifornien heimischen Musiker nicht. "Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass meine Musik eine Menge Leute verwirrt", verrät er. "Das ist keine Absicht. Ich schreibe einfach das, was ich höre. Mein Freund Loudon Wainwright, der ein sehr ehrlicher Mensch ist, sagte mir kürzlich: ´Dein neues Album ist vermutlich dein bestes und ernsthaftestes, aber dein Songwriting verwirrt mich komplett!´ Er fühlte sich schrecklich dabei, mir das zu sagen, aber ich war hocherfreut. Denn auch wenn ich es nicht bewusst mache, weiß ich natürlich, dass es so ist!"
Henrys Schwägerin Madonna und Bonnie Raitt coverten dennoch erfolgreich seine Songs, außerdem machte er sich in den letzten Jahren als Grammy-prämierter Produzent für Größen wie Solomon Burke, Ramblin´ Jack Elliott, Allen Toussaint, Lisa Hannigan oder Billy Bragg einen Namen. Allerdings fiel ihm der Wechsel auf die andere Seite des Mischpults anfangs nicht immer leicht. "Bevor ich mit dem Produzieren anfing, hatte ich mir nie vorstellen können, es mal zu tun, doch ich war überrascht, wie befriedigend es für mich war", gesteht er. "Das hat mir geholfen, mich weniger darum zu scheren, dass es nicht meine eigene Stimme und meine Songs waren, an denen ich arbeitete. Plötzlich war es einfach das Ziel, dazu beizutragen, dass bedeutsame Musik aus den Lautsprechern kam, ganz egal, wem die Stimme gehörte. "
Seine ersten Schritte auf dem Gebiet von Tontechnik und Produktion machte Henry gewissermaßen schon im zarten Alter von zehn, als er gemeinsam mit seinem Bruder einen TV-Auftritt von Comedian Richard Pryor mitschnitt – mit Stereomikros vor einem Monofernseher! "Wir wussten es ja nicht besser!", entschuldigt sich Henry lachend. "Wir dachten uns: Das Tonbandgerät kann stereo aufzeichnen, also lass uns das Bestmögliche herausholen! Heute dagegen hast du Leute, die große Mühen auf sich nehmen, ihr Album auf 180-Gramm-Vinyl herauszubringen, obwohl der Ursprung digital ist. Wo ist da der Sinn? Es darf nicht nur um reine Sentimentalität dem Medium Vinyl gegenüber gehen. Man sollte nicht nur deshalb an einem bestimmten Format festhalten, weil man nostalgisch ist."
Aktuelles Album: "Invisible Hour" (earMUSIC/Edel)
Weitere Infos: www.joehenrylovesyoumadly.com Foto: Daniel Wheeler