Seit jeher findet John Darnielle mit viel unterschwelligem Humor die Poesie in den kleinen und großen Katastrophen des Lebens. Auf ´Getting Into Knives´, dem inzwischen 19. Studioalbum seiner Band The Mountain Goats, zeigt er nun eindrucksvoll, dass künstlerische Expansion und Fokussierung auf das Wesentliche kein Widerspruch sind.
John Darnielle ist einer wie keiner. Daran lässt der 53-jährige Vordenker der Mountain Goats, der seit vielen Jahren in Durham, North Carolina, zu Hause ist, auch im Gespräch mit Westzeit keinen Zweifel aufkommen. Wer sonst würde im Interview ausgiebig über einen Song referieren, den er nie beenden konnte, anstatt über die zu sprechen, die auf dem neuen Album zu hören sind?„Die Lieder, die du nie geschrieben hast, sind wie die Fische, die du nie gefangen hast“, erklärt er am Ende seines mehrminütigen Monologs zu ´Italian Gun´ lachend. „Die Fische, die dir ins Netz gegangen sind, die isst du und dann vergisst du sie. Die, die dir durch die Lappen gegangen sind, sind wie ein riesiger Wal.“
Seit inzwischen rund drei Jahrzehnten vermittelt Darnielle seine in Melancholie getränkte Weltsicht in cleveren, oft ein wenig surrealistisch und impressionistisch anmutenden Indie-Folk-Songperlen, die er anfangs noch allein und betont lo-fi mit seinem berüchtigten Panasonic-Ghettoblaster aufnahm, bevor er um die Jahrtausendwende begann, sich Schritt für Schritt zu öffnen. Veröffentlichungen auf renommierten Labels wie zunächst 4AD Records und nun Merge Records folgten ebenso wie die Hinwendung zu einem bandbetonteren Sound. Während viele andere Künstler nur zu Beginn auf Hilfe von außen zurückgreifen und später lieber allein ihren eigenen Instinkten folgen, schätzt Darnielle inzwischen sogar den Input von externen Produzenten. Im letzten Jahr gab Owen Pallett beim konzeptionell ausladenden Doppelalbum ´In League With Dragons´ den Ton an, bei ´Getting Into Knives´ dagegen saß der Grammy-prämierte Matt Ross-Spang (Jason Isbell, Margo Price, Calexico) am Mischpult. Der Grund dafür ist einfach.
„Das liegt daran, dass ich alles rückwärts angehe“, gesteht Darnielle und muss schon wieder lachen. „Seit ´In League With Dragons´ habe ich mir vorgenommen, in solchen Fragen entspannter zu reagieren und mir anzuschauen, was passiert, wenn andere mir Entscheidungen abnehmen. Wenn es mir nicht gefällt, kann ich später ja immer noch gegensteuern. Die Idee, einen Produzenten zu haben, finde ich allein schon deshalb spannend, weil die Welt nun wahrlich weiß, wie es sich anhört, wenn ich die Zügel in der Hand halte. Jetzt wollte ich einfach wissen, was sonst noch möglich ist.“
Überhaupt spiegelt ´Getting Into Knives´ Darnielles Freude an der Kollaboration wider und vertieft die Erfahrungen, die er und seine langjährigen Mitstreiter Peter Hughes, Jon Wurster und Matt Douglas beim Vorgänger erstmals gemacht hatten.
„Bis zum letzten Album waren wir bei den Aufnahmen zumeist unter uns geblieben“, erinnert er sich. „Owen Pallett aber brachte eine Reihe Freunde aus Toronto mit und sagte: ´Lasst uns alle gleichzeitig spielen und dann schauen wir, was dabei herauskommt.´ Ich war zunächst ziemlich skeptisch, aber letztlich war es ganz wunderbar. Bisweilen spielten acht Leute gleichzeitig in einem Raum und die Energie war unglaublich. Das Gleiche haben wir nun auch bei der neuen Platte gemacht, und das kann man fühlen. Das ist nichts, was am Computer entstanden ist – so klingen Menschen, die tatsächlich gemeinsam Musik machen. Es gibt zwar auch Overdubs, das ist einfach etwas, das du machst, aber im Kern hört man, wie die Band zusammenspielt.“
Eingespielt kurz vor dem Lockdown Anfang März in nur sechs Tagen im legendären Sam Phillips Recording Studio in Memphis, widmen sich Darnielle und die Seinen auf ´Getting Into Knives´ einem wunderbar echten, betont organischen Sound, der das funky Südstaaten-Flair des Aufnahmeortes abbildet, dabei aber trotz der sanften Kurskorrektur in der Herangehensweise auch die Einmaligkeit des Mountain-Goats-Kosmos nicht außer Acht läasst. In Zeiten, in denen selbst etablierte Künstler glauben, sich ständig komplett neu erfinden zu müssen, konzentriert sich Darnielle lieber auf das Wesentliche und sucht auf der eigenen Spielwiese nach neuen Ausdrucksformen. „Ich möchte mich verändern und wachsen, gleichzeitig ist mir aber auch wichtig, dass sich die Leute in der Musik wiederfinden, die schon immer mochten, was ich mache“, sagt er. „Es geht mir darum, die richtige Balance zu finden: Ich möchte meinen künstlerischen Impulsen folgen, dabei aber auch nicht die Leute aus dem Blick verlieren, die mich dorthin gebracht haben, wo ich heute bin.“
Aktuelles Album: Getting Into Knives (Merge / Cargo)
Weitere Infos: mountain-goats.com Foto: Jade Wilson