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KEITH CAPUTO

Seele sucht Sonne

KEITH CAPUTO

Keith Caputo ist der Mann der zwei Gesichter. Mit Life Of Agony verantwortete der äußerst klein gewachsene Schreihals Mitte der Neunziger die Nachwehen der New Yorker Hardcore-Szene mit. Life Of Agonys drittes Album „Soul Searching Sun“ markierte 1997 den kommerziellen Höhepunkt ihrer Karriere. Dann stieg Caputo aus. Heute hat der 34-Jährige Frieden mit sich und seiner Umwelt gemacht – und, trotz des 2005er Albums „Broken Valley“, mit seiner alten Band innerlich abgeschlossen. Davon erzählt er im Interview in einem Berlin-Neuköllner Nobelhotel (ja, so was gibt’s auch) und auf seiner vierten Solo-Platte „A Fondness For Hometown Scars“.

Seit 1999 lebst Du größtenteils in Amsterdam. Auf Deinem Solodebüt “Died Laughing” sangst Du noch “so get back to New York City, my heavenly home, crime can be so pretty”. Wo ist Dein zuhause?



Meine Heimat ist mein Herz und meine Seele. Wenn Du von Orten sprichst, dann ist das der Planet Erde. Ich will den ganzen Globus sehen, bevor ich die Kloschüssel runtergespült werde. Eine bestimmte Heimat habe ich nicht. Um dennoch zu antworten, würde ich New York City, Amsterdam und Los Angeles nennen. Drei Orte, an denen ich immer wieder arbeitete, in denen ich lebte und meinen Kopf mehr als nur zeitweise reinsteckte. Als ich 1993 das erste Mal in Amsterdam war, habe ich zu mir selbst gesagt: „Eines Tages wirst Du hierhin ziehen!“ Einen Großteil meines Lebens habe ich in der Umgebung derer zugebracht, die der Großteil der Bevölkerung als „die Unerwünschten“ bezeichnen würde: Drogenabhängige, Prostituierte, Zuhälter, Boheme. Ich umgebe mich immer noch gerne mit solchen Leuten. In meiner Gasse rauchen sie Crack, die Prostituierten laufen die ganze Nacht auf und ab und ich mag all das, es inspiriert mich, da steckt ein romantischer Gedanke dahinter. Ob ich es cool finde, dass sich die Leute Heroin spritzen? Natürlich nicht. Ich habe meine Mutter und meinen Vater daran verloren. Amsterdam erinnert mich an meine Familie. Ich nehme selbst keine Drogen mehr.



Seit Deiner Trennung von Life Of Agony 1997 hast Du mit eigenen Projekten und Bands wie Absolute Bloom, Freax, The Sad Ladies, Within Temptation, Bellamajestik oder Joey Slipknot Musik gemacht. Wonach suchst Du?



Ich versuchte das nachzuholen, was mir mit den Jungs von LOA fehlte und fand dadurch endgültig heraus, dass es das Beste war, mein eigenes Ding zu machen. Das Freax-Projekt ist eines meiner Liebsten. Ich zog damals nach Miami und schrieb ein Album mit diesen Jungs. Ich wurde in einem Lamborghini eskortiert, lebte in einem 3-Millionen-Haus, wir tranken Wodka, rauchten Pot, schnieften Koks. Textlich entstand dort das mit Abstand Verstörteste, das ich je geschrieben habe. Es klingt wie Nine Inch Nails auf Crack, gepaart mit den sentimentalsten Eddie Vedder-Momenten.



Was gibt Dir Deine Solomusik, das Du nirgends sonst findest?



Ich habe mit vielen anderen Leuten gearbeitet, und alle sind sie so gekünstelt, jeder hat seine eigenen Ideen. Ich bin keine wettbewerbsträchtige Natur, aber auch nicht der, der für jeden einen Kompromiss findet. Alleine habe ich keinerlei Begrenzungen.



Dein neues Album hast Du trotzdem mit einer Band und prominenten Gastmusikern wie Flea, dem Jane’s Addiction- und Dave Gahan- Produzenten Martyn Lenoble und anderen aufgenommen. Warum heißt es “A Fondness For Hometown Scars”?



Ich habe einen Punkt erreicht, an dem ich all die Schönheit und Hässlichkeit meiner Person akzeptiert habe. Ich habe mich selbst in viel Scheiss reinmanövriert. Ich sehe in den Spiegel meiner Seele und habe keine Angst mehr. Das meine ich mit Fondness: eine Neigung, verwundet zu werden. Ich bin nicht mehr traurig über Dinge in meinem Leben wie „Warum habe ich keine Mutter mehr, warum waren sie und mein Vater so elend mit Drogen?“. Statt nach dem warum zu fragen, akzeptiere ich es und lerne daraus. Ich bereue nichts. Weder, LOA auf dem Höhepunkt ihrer Karriere verlassen zu haben, noch meinen Schwanz in etliche Frauen ohne Kondom gesteckt zu haben.



LOA und Dein Solodebüt wurden via Roadrunner veröffentlicht, seitdem aber arbeitest Du nur noch mit Indie-Labels oder online in kompletter Eigenregie. Willst Du das so oder haben die Majors kein Interesse mehr?



Auch wenn mich ein Majorlabel heute unter Vertrag nehmen wollte, würde ich nicht unterschreiben. Sie haben zu viele falsche Erwartungen. Das Musikbusiness arbeitet für mich wie Hitler: Die Künstler sind die Juden. Alle sind nur Nummern. Und wenn du Hitlers Erwartungen nicht erfüllst, wirst du vergast. „Was? Du schreibst einen Song, der nicht der nächste Nickelback-Hit wird? Boom, vergast!“ Sie nehmen keine Risiken in Kauf und nutzen keine Chancen. Dabei sind die Künstler doch die, die das Rad des ganzen Systems in Bewegung halten.



Du selbst betonst immer wieder, dass die Leute durch Deine Musik in sich wachsen und geheilt werden sollen, sich selbst so nah wie möglich sein. Hat gute Musik Dir das auch gegeben?



Led Zeppelin oder Pink Floyd gaben mir immer das Gefühl, nicht alleine zu sein. Es gab eine Zeit, zu der ich sehr traurig war. „Final Cut“ von Pink Floyd war meine Bibel, dieses Album heilte mich. Ich möchte den Leuten ebenso Kraft durch meine Musik geben. In meinem Album steckt eine Sensibilität, die Du in keiner LOA-Platte findest. LOA war vielmehr in Richtung junger, frustrierter, wütender Männer gerichtet. Meine Musik ist eher auf die Welt ausgerichtet. Ob du nun ein Mann, eine Frau, eine Frau gefangen im Körper eines Mannes oder umgekehrt bist, all das ist egal. Meine Musik ist zerbrechlich und anspruchsvoll. Sie spricht zu den Leuten, die 90000 Gedanken statt 60000 Gedanken pro Tag haben. Menschen, die ein besseres Leben wollen anstatt sich nur in ihrer Wut und ihrem Frust zu suhlen. Es geht eher an das romantische als an das hassende Individuum.



Nach Life Of Agony hast Du nur ungern über diese Zeit gesprochen. Dann kam die Wiedervereinigung. Aus Trotz, Nostalgie oder dem Wunsch nach einem Neubeginn?



Es ging mir um Wiedergutmachung mit den Jungs. Aber das ist der Anfang und das Ende davon. Wir trennten uns auf eine ziemliche miese Tour, mit viel Hass und Feindseligkeit. Zwar erachtete ich die Zusammenkunft als eine gute Sache. Die Band ist aber nicht wieder wirklich zusammen. Klar, wir haben ein neues Album gemacht und tourten damit, aber wir leben sehr unterschiedliche Leben. 10 Konzerte pro Jahr machen für mich noch keine Band. Ich sehe mit Life Of Agony keine Zukunft und sah sie auch nie. Es überrascht mich wirklich, dass es überhaupt wieder so weit kam.



Was dachtest Du, als sie Whitfield Crane als neuen Mann ans Mikrofon holten?



Ich fühlte eine Rückversicherung in meiner Entscheidung durch ihre Entscheidung. Dass sie so einen Clown in die Band ließen, bestätigte mir, dass ich richtig lag, diese Band zu verlassen. Schon während unserer gemeinsamen Zeit wurden Entscheidungen gefällt, an denen ich a) nicht teilnahm und die ich b) nicht mochte. Die Band war niemals „alle für einen und einer für alle“ und das wollte ich nicht. Als sie das Ugly Kid Joe-Kid in die Band ließen, war das nicht mehr als ein Witz. Wie kann man es erlauben, so eine Rock’n’Roll-Parodie in ein solch ernstes Gewand zu stecken? Und es floppte schrecklich. Das wusste ich und es freute mich, dass es so kam.



Warum stehst Du dann überhaupt wieder mit Life Of Agony auf der Bühne?



Wir spielen ein paar Shows, um eine gute Zeit zu haben, einige tausend Leute glücklich zu machen und um uns etwas Geld in die Tasche zu stecken. Aber das wird nicht ewig andauern. Ich hab mich für zwei Wochen verpflichten lassen, viel mehr wird’s nicht werden. Sie wollen ein neues Album machen. Aber ich will das nicht.

Aktuelles Album: A Fondness For Hometown Scars



Weitere Infos: www.keithcaputo.com

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