(Milena Verlag, 160 S., 22,00 Euro)
Die "Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil" sind für die Erforscher von Zeit-, Geistes- und Sozialgeschichte der Münchner Boheme um 1910 eine wichtige Quelle, berichtet die "Skandalgräfin" Franziska (oder Fanny) zu Reventlow (über die wir an dieser Stelle schon so oft berichteten, dass ich mir weitere Vorstellungen und Einordnungen hoffentlich sparen kann) doch dort quasi aus erster Hand über das Leben in Schwabing, dem sie in diesem Roman den sprechenden Namen "Wahnmoching" gibt. Auch die Protagonisten werden nur notdürftig verkleidet, nach dem gewohnt kenntnisreichen und von sprachlichem Esprit einmal mehr nur so sprühenden Vorwort der grandiosen und durch zahlreiche lesenswerte Biografien von Nietzsche bis Lasker-Schüler und eben auch zu Reventlow bekannt gewordenen Kerstin Decker werden einige in einer kurzen Liste "demaskiert". U.a. hat FzR da folgende "Personen ihres Freundes- und Bekanntenkreises porträtiert": Delius (= der "Mysterienforscher" Alfred Schuler), Der Meister (= Stefan George), Hallwig (= der "Graphologe und Philosoph" Ludwig Klage). Letzterer war auch im "echten Leben" eine Zeitlang einer der Liebhaber der Autorin, die hier als "Susanna" auftritt. Die leicht verwirrten und zwischen schweren Gedanken zum "Heidnischen" und profaner Lust am Feiern Schwankenden pflegen mit Inbrunst ihre Exzentrik und Egos – das war im Schwabing des frühen 20. Jahrhunderts offenbar nicht sehr viel anders als heute in Neukölln oder Leipzig-Plagwitz. Nur dass seinerzeit von "Blutleite" und "Bacchanal" die Rede war (so wie heute von einer FetischParty im KitKat-CLub), die Damen und Herren einander artig siezten und die Gespräche (zumindest scheinbar) tiefgründiger geführt wurden. Wenn also Herr Dame (ein junger Mann aus gutem Berliner Hause) seine Erlebnisse nach der Ankunft in München niederschreibt, erfährt in seinem "document humain" der (Aber)Glaube an magische Rituale, den die (echten) "Kosmiker" seinerzeit kultivierten, ebenso eine wundervoll satirische Aufbereitung wie die hedonistische Hingabe an den "Fasching". Dabei äußern die Helden recht "heutige" Ansichten: "… die Beschränkung der Erotik auf das eine oder andere Geschlecht ist ja überhaupt eine unerhörte Einseitigkeit. Der vollkommene Mensch muss alle Möglichkeiten in sich tragen und jeder Blüte des Lebens ihr Aroma abzugewinnen wissen.", meint z.B. "Adrian" (= Oscar A.H. Schmitz). "Susanna" zu Reventlow bemerkt später lakonisch "Wir wollen nur etwas Verwirrung anrichten" und bringt die heimliche Strategie der Wahnmochinger damit auf den Punkt. Die Sorgen sind groß, beziehen sich aber nur selten auf Kleinlich-Weltliches: "Wir haben einen Nachtspaziergang zu den Hünengräbern verabredet. Es ist sehr möglich, dass wir dort zur Nachtzeit kosmische Urschauer erleben. (…) Wenn nur um Gottes Willen der Mond nicht dazwischenkommt." Auch seiner Einzigartigkeit ist sich der mystische Kreis samt kappadozischer Dame bewusst: "Dem Laien mag es fast wie eine Redensart klingen, mit der schon unzählige Bewegungen ihr Programm eröffnet haben, aber für den Wissenden besteht kein Zweifel, dass ebendiese Bewegung von Grund auf anders geartet ist." - das denken die Helden von heute noch heute. "Herrn Dames Aufzeichnungen" sind ein kulturgeschichtlicher (Rück)Blick aus erster Hand, der noch dazu sehr lustig zu lesen ist.Weitere Infos: www.milena-verlag.at