Wohl kaum jemals zuvor stand die europäische Einigung vor so großen Herausforderungen wie in den letzten Monaten. Die Herausforderungen werden größer statt kleiner, ebenso wächst die Zahl der Anti-Europäer im Osten wie im Westen der Union. Dass ein Kunstprojekt dies ändern kann, ist kaum zu erwarten. Und doch ist der jetzt eingeweihte Platz des Europäischen Versprechens ein Ort, der jeden Besucher einlädt, seine persönliche Idee von Europa zu reflektieren.
An der Christuskirche, in der City von Bochum, ist ein Platz gestaltet worden, an dem Kunst nicht einfach nur abgestellt wurde. Der international erfolgreiche, deutsche Konzeptkünstler Jochen Gerz hat auf Einladung der Gemeinde eine Idee entwickelt, die 2010, als das Ruhrgebiet Europäische Kulturhauptstadt war, fertiggestellt werden sollte. Zwischenzeitlich stand das gesamte Vorhaben wegen gestiegener Kosten zur Disposition. Nun endlich konnte das vom Land NRW, der Stadt und der Evangelischen Kirche in Auftrag gegebene, 3,35 Millionen Euro teure Projekt abgeschlossen werden – ohne Änderung oder Einschränkung der Ursprungsidee.„Es ist selten, dass lebende Menschen auf einem Platz verewigt werden“, äußert der Künstler, „der öffentliche Raum gehört den Toten.“ Und weil das auch in Bochum nicht anders ist, hat Jochen Gerz seine Arbeit als Gegenposition zu einer vorhandenen Gedenkstätte im Turm der Christuskirche konzipiert. An dessen Wänden stehen nicht nur die Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Gemeindemitglieder. 1931 wurden auch 28 Namen von Staaten in Mosaikform an die Wand geschrieben, die „Feinde Deutschlands“. Ein eher einseitiges Gedenken, das dazu geführt hat, dass der Turm Jahrzente geschlossen geblieben ist. Jochen Gerz' Konzept für den Platz des Europäischen Versprechens war ein partizipatives. Menschen in ganz Europa waren aufgerufen, sich über Europa Gedanken zu machen, Europa ein Versprechen zu geben. Die Bereitschaft mitzumachen war groß. Bei 14.726 Beteiligten wurde die Reißleine gezogen, denn alle Namen – nicht die Versprechen – mussten in Basaltlavablöcke, die auf dem Platz verlegt wurden, eingraviert werden. Der Künstler hat selbst ein Versprechen abgegeben. Welches? Das bleibt unsichtbar – wie alle anderen auch. Der Platz dient als Katalysator eigener Vorstellungen und als Sinnbild eines Europas der vielen Stimmen. „Europa ist nicht Brüssel. Es ist viel älter als die Nationen.“ Mit dieser Sichtweise verweist Jochen Gerz, dessen ebenfalls unsichtbare Mahnmale gegen Faschismus und Rassismus in Hamburg (1986) und Saarbrücken (1993) seinerzeit viel diskutiert wurden, auf den über das Politische hinausgehenden Kulturraum. Was man nicht sieht, muss man denken, so könnte man den konzeptuellen Ansatz des Künstlers bündeln. Darüber hinaus will er mit seinem Werk in Opposition zu herkömmlichen Denkmalen treten. Statt Erinnerung an Vergangenes Formulierung von Utopien. Und mutige, ungewöhnliche Zukunftsentwürfe sind in unserer krisenhaften Zeit schließlich Mangelware. Es gehört zur diskursiven Qualität dieses Mahnmals der Lebenden, dass sich bereits Personen an den Künstler gewandt haben, um ihr Versprechen zu widerrufen – etwa wegen der neoliberalen Wirtschaftspolitik der EU. Aber was wäre Europa ohne kritische Begleitung durch seine Bürger? Den stadträumlichen Reiz des Platzes unterstreicht eine Lichtinstallation des Franzosen Laurent Fachard, der die Anlage bei Dunkelheit in wohlig blaue Töne hüllt – mit besonderer Betonung der 21 Steinplatten mit den Namen derjenigen, die Europa ein Versprechen gegeben haben. So sorgt die Kulturhauptstadt fünf Jahre nach ihrem offiziellen Ende für ein letztes Highlight.