Das neue Album von Zachary Cale ist ein Schnappschuss, eine Momentaufnahme. Auf ´Next Year's Ghost´ fängt der in Brooklyn heimische Singer/Songwriter die lähmende Ungewissheit der COVID-Pandemie in Songs ein, die für ihn trotz seiner langen, wechselvollen Karriere Neuland bedeuten. Hatte er in der Vergangenheit stets die Gitarre zum Mittelpunkt seines klanglich stets abwechslungsreichen Schaffens gemacht, suchte er sich für diese LP eine neue Herausforderung: Die wohlig düsteren Lieder seines inzwischen achten Solowerks schrieb der 45-jährige Musiker am Klavier – geplant war das aber nicht.
"Ich habe mir nicht vorgenommen, eine 'Pandemie-Platte' zu machen, das hat sich einfach so ergeben", verrät Zachary Cale im WESTZEIT-Interview. "Ich habe ein wenig das Gefühl, dass das jetzt alles Schnee von gestern ist und niemand mehr etwas über diese Zeit hören will, aber Alben sind, wenn überhaupt, Momentaufnahmen, und die Songs auf diesem Album verkörpern diese seltsame, einsame Zeit. Die Strenge des Klaviers und die langsameren Tempi führen mich in eine geduldigere, hymnenartige Zone. Ich habe das Gefühl der Isolation aufgegriffen. Ich beobachtete, wie die Welt in Echtzeit zusammenbrach, und ich denke, die Lieder spiegeln die Intensität dieser Zeit wider: die Unruhe, die Spaltung, die Angst."Zum Klavierspielen kam Cale eher beiläufig. Es diente ihm zunächst nur als willkommene Routine in der so unstrukturierten Zeit der Pandemie.
"Ich begann Klavier zu spielen, um zu meditieren. Am Anfang war es eine beruhigende Sache, bei der ich mich ablenken und ganz locker spielen konnte", erinnert er sich. "Das Klavier stand nicht in meinem Apartment, es war im Atelier eines Freundes untergestellt. Der Fußweg über die Überführung nach Red Hook wurde zu meiner Routine. Das hat mir die Gelegenheit gegeben, aus meiner Wohnung rauzukommen und für ein paar Stunden allein zu sein."
Lieder wie das rund siebenminütige, betont repetitive ´Shatterstar´ sind dabei das Sinnbild der Elastizität der Zeit in der Phase des Lockdowns, in der die Songs für ´Next Year's Ghost´ entstanden sind.
"Ich versuche nie, etwas zu erzwingen. Songs passieren oder sie passieren nicht. Wenn ich 'versuche', einen Song zu schreiben, passiert das normalerweise nicht. Es kommt einfach darauf an, wie ich mich an dem Tag fühle und ob mein Geist, mein Körper offen genug ist, um die Idee aufzunehmen. Ich weiß, das klingt irgendwie mystisch, und vielleicht ist es das auch. Ich bin einfach kein Planer. Das Schreiben verläuft bei mir in Wellen und Schüben. Ich schreibe eine lange Zeit nichts, aber dann gibt es eine Phase, vielleicht ein paar Wochen oder zwei Monate, in denen der Wasserhahn aufgedreht wird und eine Menge herausfließt. Dies war so eine Zeit."
Obwohl Cale über die Jahre eine so starke Identität als Songwriter aufgebaut hat, dass er jedem seiner Werke unabhängig von Instrumentierung oder Produktion seinen Stempel aufdrückt, hatte der Wechsel ans Klavier auch Einfluss auf seine Herangehensweise beim Schreiben und Arrangieren.
"Beim Klavier hatte ich das Gefühl, dass ich sehr sparsam sein muss", erklärt er. "Ich kann nicht auffällig oder schnell spielen. Ich war also gezwungen, auf eine einfachere Weise zu schreiben. Die Zeit hatte sich während des Lockdowns verlangsamt und die Musik sollte das widerspiegeln. Die Songs hatten schließlich diese elegische Qualität, fast wie ein Gebet, was dem Klavier sehr entgegenkam."
Inspiration dafür fand er bei Nina Simone, Bill Fay, aber auch bei Emahoy Tsege Miriam Gebru. "John Lennons erstes Soloalbum, ´Plastic Ono Band´, ist für mich auch von großer Bedeutung. Das ist sein erster Versuch am Klavier. John Cales Album ´Fear´ ist ein weiteres. Dieses Album ist etwas Besonderes, denn es bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen traditionellem Singer-Songwriter-Klavier und avantgardistischem Feingefühl."
Auch Jazz-Größen wie Bill Evans, McCoy Tyner und Thelonious Monk dienten ihm als leuchtende Beispiele, "auch wenn ich nicht annähernd in der Lage bin, mich da heranzuwagen", wie er bescheiden zugibt.
Inspirierend war auch die Tatsache, dass Cale für die Aufnahmen der Platte neue Mitstreiter um sich scharte, die den Liedern mit ihren oft betont atmosphärischen, fließenden Beiträgen etwas von ihrer Schwere nehmen. Tausendsassa Shahzad Ismaily (Marc Ribot, Bob Dylan, und, und, und) gehört das Studio, in dem die Platte aufgenommen wurde, er empfahl auch den Schlagzeuger Jeremy Gustin (The Ah, Delicate Steve, Okkervil River), während Cale selbst den Gitarristen Uriah Theriault mitbrachte, mit dem er in seinem Instrumental-Bandprojekt Vague Plot spielt.
"Mit neuen Leuten zu spielen ist immer inspirierend", erklärt Cale. "Shahzad und Jeremy sind ein Dreamteam in der Rhythmusgruppe. Ich fühlte mich anfangs sehr unsicher, als ich vor ihnen Klavier spielte, weil ich so ein Amateur bin und sie zu den besten Musikern auf ihrem Gebiet gehören, aber sie hielten mich in der Spur und verfolgten jeden meiner Schritte. Ich mache gerne Platten auf diese Art und Weise. Du lernst es beim Tun und fängst den ersten Funken ein, wenn es sich gerade zusammenfügt."
Das Credo, das sich dahinter verbirgt, ist ebenso simple wie mutig.
"Musik sollte Risiken eingehen", sagt Cale abschließend. "Wir leben in einer Zeit, in der so viel auf dem Spiel steht, und deshalb versuche ich jedes Mal, furchtlos zu sein."
Aktuelles Album: Next Year's Ghost (Org Music)
Weitere Infos: zacharycale.com Foto: Alfra Martini