Es begann wie so oft heutzutage – sie lud einfach ein paar Songs auf Soundcloud hoch, und die Welt hörte zu. Das war 2016 und sie selbst war gerade 18 Jahre alt. Kurze Zeit später folgten schon drei EPs, und ratzfatz war sie auf der Watchlist der großen Musikmedien, die alle nur darauf warteten, ob ein Album all das, was ihr Output versprach, auch halten konnte. Die klassische Dynamik des Hypes also. Was die Künstlerin selbst relativ kalt gelassen hat, denn für Nilüfer Yanya begann alles viel früher. Als Kind von Künstlern und mit einem Onkel, der als Produzent und Session-Musiker arbeitet und schon früh mit ihr jammte, war Musik einfach etwas, das zum normalen Leben dazugehörte, nicht etwas, dass von außen kam, von Stars oder Antihelden, deren Image und Erfolg sie faszinierte. Es war Teil des Familienlebens.
Deswegen scheint es auch, dass sie gar keine andere Möglichkeit gehabt hatte, als selber Künstlerin und vor allem Musikerin zu werden. Gab es je denn eine Chance, dass sie sich für einen normalen, sicheren Weg entscheiden würde?„Nein“, lacht sie. „Aber vor allem, weil sich dieser Weg für mich sicher und normal anfühlte ... In einer gewissen Weise ... also … manchmal“, räumt sie lächelnd ein.
Als sie die erste Musik online stellte, hatte sie keine Ahnung, dass es zu irgendetwas führen würde, egal wie sehr ihre Freunde und Familie hinter ihr standen und an sie glaubten – so funktioniert das Musikgeschäft ja nun wirklich nicht, auch wenn es rückblickend oft so scheint.
„Ich hatte natürlich Vertrauen in mich und meine Musik – und letztlich ist das ja auch alles worauf es ankommt. Der Punkt ist doch, dass ich es gut finden muss … Und auch wenn nichts passiert wäre, hätte ich bestimmt weitergemacht, weil ich das, was ich mache, mag.“
Wie sich zeigte, eben nicht nur sie. Und alles geschah sehr schnell … die hohe Frequenz, in der die EPs erschienen, dazu die vielen, hochkarätigen Supportauftritte und vor allem das Schreiben, Aufnehmen und Produzieren immer neuer Lieder. Ganz zu schweigen von all dem, was organisatorisch und geschäftlich in dieser Zeit passieren musste. Schneller als man denkt, wird das ganze zu einem Vollzeitjob.
„Es ist schon lustig – je erfolgreicher ich werde, desto weniger Raum finde ich, um wirklich Musik zu machen! Das ist schon eigenartig … Ich rede mittlerweile mehr darüber, als das ich welche mache! Ich fange fast an, mir wie ein Fake vorzukommen. Ich weiß, ich muss anfangen, wieder die Kontrolle zurückzugewinnen.“
Klar, sie sie hätte einfach so, ohne Labelvertrag weitermachen können, es gibt ja mehr als genug Beispiele von Leuten, die einfach nur auf woauchimmer ihre Lieder hochladen und damit trotzdem Millionen erreichen. Aber Nilüfer musste ja unbedingt ein echtes Album aufnehmen, und das schreit auch heute noch nach klassischen Strukturen.
„Ich wusste schon immer, dass ich genau das tun wollte! Und es wurde langweilig, EP nach EP nach EP aufzunehmen.“
Trotzdem entstand ´Miss Universe´ in einem sehr engen Zeitrahmen, der sich, wie sie zugibt, auch direkt auf die Lieder ausgewirkt hat.
„Vielleicht hätte ich es sogar völlig anders gemacht, wenn ich länger darüber hätte nachdenken können. Aber ich bin trotzdem stolz auf alles. Denn ein großer Teil bei dieser Aufgabe war ja auch die Antwort auf Frage, ob ich es überhaupt schaffen kann … kann ich ein Album aufnehmen? Und jetzt weiß ich, ja! Ich habe es getan! Es ist nicht perfekt, aber es ist da. Wie könnte man auch erwarten, dass das erste perfekt sein kann?! Und selbst wenn es das gewesen wäre, bin ich mir sicher, ich wäre auch nicht glück-licher damit“, lacht sie. Was ihr sehr geholfen hat, war dass sie mit Leuten arbeitete, die schon immer an ihrer Seite waren, wie ihrem Onkel Joe oder auch ihrem alten Gitarrenlehrer. Und die, die dazu gekommen sind, hatten ihr ganzes Vertrauen. Trotzdem fühlte es sich alles „wie ein Experiment an. Bei jeden Track.“
Doch so sehr sie jedes Lied liebte, am Ende fehlte ihr da etwas. Der Klebstoff, der in ihren Augen alles erst zu einen Gesamtwerk zusammenschloss, wurden die kleinen Skits, die am Anfang und an vielen Stellen des Album eine übergeordnete Story eröffnen, und die Nilüfer erst am Ende der Aufnahmen realisierte. Was noch einmal betont, dass sie bei diesem Projekt in klassischen Bahnen gedacht hat, denn auf Spotify werden diese Details niemanden interessieren und die Klickzahlen mit Sicherheit nur einen winzigen Bruchteil von denen der Lieder erreichen. Aber im Kontext eines Vinyls geben sie allem erst den Sinn.
„Und es machte einfach Spaß!“ Diese gesprochenen Interludes sind die automatisierten Botschaften einer fiktionalen Gesundheits-Managementfirma namens WWayHealth. Man schreibt sich ein und sie kümmern sich anfangs um deinen Ernährungsplan, übernehmen dann die Planung deiner Medikamente und vielleicht haben sie sogar bessere Organe für dich … „und plötzlich wird es eigenartig“, erklärt Nilüfer.
Doch nun geht es erst einmal darum, das Album in die Welt zu bringen, etwas, für das sie viel geübt hat. Sie war bereits Support für viele große Acts, wie The xx, Interpol, Broken Social Scene und Sharon Van Etten (wo sich sich ab wohlsten gefühlt hat, denn bei allen anderen war sie hinter der Bühne wahrhaftig die einzige Frau weit und breit gewesen). Allerdings stand sie da noch vor einem Publikum, dass eigentlich nicht wegen ihr da war. Doch:
„Ich fand es sogar einfacher – weil es weniger Druck gab. Es waren ja nicht meine Shows …“ Nach dem Motto: Wenn es nicht funktioniert, wird sich sowieso niemand an sie erinnern.
„Es gibt einfach nichts zu verlieren! Und wenn das Publikum doch mag, was ich da tue, um so besser. Ich habe mich irgendwie sogar daran gewöhnt, Support zu sein“, lacht sie. „Doch jetzt werden die Leute kommen, um wirklich mich zu sehen!“
Was natürlich die Frage aufwirft, was sie dann da oben vorhat – eine Frage, die sie sich selber auch noch stellt.
„Es ist in der Entwicklung, und diese Entwicklung wird auch nicht aufhören, wenn wir unterwegs sind. Im Sommer werden wir uns vielleicht gefunden haben.“
Wie immer sieht sie alles als offenes Experiment, was dazu führen wird, dass jede Show zu Beginn etwas neues und einzigartiges sein dürfte. Und wenn irgendwie möglich, will sie auch die Skits des Album einbauen, um mehr als einfach nur einen Song nach dem anderen zu spielen
„Das würde ich echt immer gerne machen, aber mal sehen. In der Londoner Show zumindest werden auch mal die Lichter ausgehen und die Stimme wird aus dem Off kommen … fun stuff like that!“
Wie sie bei all dem noch die Zeit findet, sich um das Projekt ´Artist In Transit´ zu kümmern, einer non-profit Künstlergruppe, die Kunst- und Musikklassen für Flüchtlinge organisiert, ist dabei vielleicht das größte Rätsel.
„Es war die Idee meiner Schwester. Es soll wie ein Eisbrecher sein. Wir gehen in die Camps und da gibt es keine Strukturen und keine Infrastrukturen. Irgendjemand übernimmt zwar immer die Verantwortung, aber wirklich verantwortlich ist niemand.“
Deshalb konnten sie einfach zu ihnen gehen „und wir haben Freunde gefunden und die Gemeinschaften kennengelernt. Ob in irgendeinem Raum oder im Freien – wir bauen uns auf und nach einer Woche oder so, wird klar was wir da machen und vorhaben, und alle beginnen sich wohler zu fühlen. Meine Gruppe wird in zwei Wochen wieder hingehen, ich bin derweil aber auf Tour. Wir nehmen das sehr ernst und immer mehr unserer Freunde machen mit. Und wir wollen noch mehr Workshops geben.“
Wenn es nach ihnen ginge, darf jeder in Europa diese Idee aufgreifen und ähnliche Events organisieren. „Jeder könnte seine eigene Version davon aufziehen!“
Da scheint es dann auch wirklich eine gute Idee gewesen zu sein, dass sie den ursprünglich angedachten Albumtitel ´Giving Up´ fallengelassen hat. Vielleicht hätte es in ihren Augen ja zum Album gepasst – aber definitiv nicht zu ihr.
Aktuelles Album: Miss Universe (PIAS)
Foto: Wunmi Onibudo