„Eine gute Platte mit 22 zu machen, ist schon eine Errungenschaft, mit Mitte 50 grenzt es dagegen an ein kleines Wunder“, sagt Jim Reid, doch seiner Band The Jesus And Mary Chain ist das fast Unmögliche dennoch geglückt. Fast 20 Jahre nach ihrem letzten Album legen die schottischen Pioniere des Noise-Pop nun mit ´Damage And Joy´ ein wirklich überzeugendes Comeback-Album vor, bevor das Quintett um Jim und seinen Bruder William im April auf seine erste komplette Deutschland-Tournee seit 25 Jahren geht.
Nein, die Band, die in ihren Anfangstagen Mitte der 80er auf der Bühne oft wilde Feedback-Orgien feierte und deren legendär kurze Auftritte mehr als einmal in völligem Chaos versanken, sind The Jesus And Mary Chain natürlich heute nicht mehr. Auch die Zeiten, in denen sie im Zuge des Alternative-Rock-Booms der 90er die britischen Top 10 stürmten, in den USA auf lange Tourneen gingen und kurz am ganz großen Erfolg schnupperten, sind längst passé. Vorbei sind aber auch die hitzigen Streitereien zwischen Jim und William, die schon auf dem 1998er-Album ´Munki´ spürbar waren und kurz darauf zur öffentlichen Implosion der Band führten.„Ich denke, wir sind heute viel entspannter“, sinniert Jim Reid im Westzeit-Interview.
„Früher standen wir viel stärker unter Druck, Deadlines einzuhalten und Dinge zu tun, bei denen wir uns nicht so recht wohlfühlten. Wir mussten Tourneen absolvieren, auf die wir nicht besonders scharf waren, oder ´unbedingt´ in Fernsehshows auftreten, obwohl es sich für uns nicht richtig anfühlte. Jetzt geben wir selbst das Tempo vor. Wenn wir heute etwas machen, dann nur, weil wir selbst es auch wirklich wollen.“
Doch auch wenn heute vieles anders ist: Der Funke, der sich einst auf bahnbrechenden Alben wie ´Psychocandy´ oder ´Darklands´ entzündete, ist bis heute nicht erloschen. Denn auch wenn die Reid-Brüder East Kilbride längst hinter sich gelassen haben, wirkt ihre Jugend in der für sie so trostlosen Trabantenstadt vor den Toren Glasgows immer noch nach.
„Deine Zeit als Kind und Jugendlicher ist so prägend, dass sie dich dein ganzes Leben nicht mehr loslässt“, ist Jim überzeugt. „Ganz egal, wo wir heute die Songs schreiben und aufnehmen – ich bin und bleibe der Junge aus East Kilbride. Das Gefühl der Isolation, das William und ich dort spürten, ist immer noch in uns drin und bestimmt bis heute unsere Weltsicht.“
Auch zwischenmenschlich knüpfen Reid und Reid heute gewissermaßen an diese Zeiten an, denn während der Aufnahmen zu ´Damage & Joy´ wurde den beiden klar, dass ihre Band größer ist als all ihre Reibereien der Vergangenheit.
„Die Mary Chain ist für unsere Beziehung Segen und Fluch zugleich“, glaubt Jim. „Es ist kein Geheimnis, dass wir zwei stürmische Jahrzehnte hatten. Aber das war nicht immer so. Bevor wir die Band gründeten, waren wir die besten Freunde. Wir waren praktisch bei allen Dingen einer Meinung. Erst in den 90ern fingen wir dann an, gegeneinander zu arbeiten.“
Die niederschmetternden Erfahrungen von damals waren auch der Grund, warum eine neue LP nach der Wiedervereinigung der Mary Chain als Live-Band im Jahre 2007 so lange auf sich warten ließ.
„William war schon vor zehn Jahren scharf darauf, eine weiteres Album aufzunehmen“, verrät Jim. „Ich dagegen befürchtete, wir würden wieder ins Fahrwasser von ´Munki´ zurückkehren. Irgendwann wurde mir dann aber klar: Noch schlimmer als ein Scheitern wäre, es gar nicht erst versucht zu haben, nur weil ich zu viel Schiss hatte.“
Ganz ohne Sicherheitsnetz ging es dann aber doch nicht, und deshalb wurde Tausendsassa Youth zum Produzenten mit Sonderaufgaben ernannt.
„William und ich wussten ja nicht, wie wir zusammen zurechtkommen, und wollten nicht allein im Studio sein, wenn die Kacke am Dampfen ist“, gesteht Jim. „Allerdings haben wir schnell begriffen, dass es ein Riesenfehler wäre, diese Chance zu vermasseln – und das hat uns zusammengeschweißt. Wir haben uns so gut verstanden wie schon sehr lange nicht mehr.“
Entstanden ist so eine Platte, die all die alten Markenzeichen der Mary Chain aufgreift und mit einem Schuss Altersweisheit neu zusammenfügt. Kalkül steckte allerdings nicht dahinter, wie Jim abschließend erklärt:
„Unsere Herangehensweise war schon immer, ins Studio zu gehen und die Dinge passieren zu lassen. In der Vergangenheit haben wir manchmal versucht, unsere Alben in bestimmte Richtungen zu lenken, aber das hat nie funktioniert. Man muss die Dinge einfach fließen lassen – und genau das haben wir dieses Mal getan!“
Aktuelles Album: Damage And Joy (ADA / Warner)
Weitere Infos: thejesusandmarychain.uk.com Foto: Steve Gullick