Vom Tellerwäscher zum Millionär – das ist nach wie vor und trotz Bankenkrise immer noch der grundsolide amerikanische Traum. Heutzutage gibt es dazu quasi ein modernes, digitales Upgrade: Vom Singer-/Songwriter zum Superstar. Die Mechanismen dafür sind vielfältig und haben nur noch am Rande mit den klassischen Prinzipien der Musikindustrie zu tun. Ingrid Michaelson aus New York schaffte es durch ein geschicktes Marketing mit guten Connections ihre Songs in der TV-Serie „Grey's Anatomy“ und in Werbespots zu platzieren.
Ihr offizielles Debütalbum „Girls and Boys“ produzierte sie selbst (für ganze 3000 Dollar, wie die Managerin nicht unstolz erzählt), vertrieb das vollkommen unabhängig, auf ihren eigenen Label Cabin 24 über das Web nahezu 250000 mal und bei ihrer ersten eigenen Tour schaffte sie es – als Support von Dave Matthews in den USA oder bei Jason Mraz bei uns - gleich auf die großen Bühnen. Noch bevor das Album bei uns offiziell erscheint, spielte Ingrid ein halbamtliches Nachfolge-Werk ein; mit Akustik-Nummern, Cover-Versionen und Alternate-Takes, dessen Erlöse zur Hälfte and die Krebs-Initiative „Stand Up To Cancer“ gehen und das mit der Single „Be OK“einen veritablen Akustik-Pop Hit allererster Couleur enthält. Wer ist also diese Ingrid Michaelson, die mit ihrem Schlapphut und der Hornbrille fast ein wenig unscheinbar aussieht – jedenfalls aber nicht wie ein Selfmade-Superstar.„Ich bin gar nicht mit Pop-Musik aufgewachsen“, gesteht sie, „mein Vater ist ein Klassik-Fan und ich bin über eine Menge Musicals, die Beatles, Judy Garland, Bing Crosby und Fred Astaire an die Musik gekommen. Ich habe dann auch Musiktheater studiert und erst nachdem ich mit dem College fertig war, habe ich begonnen, Songs zu schreiben – was mir letztlich doch besser geeignet erschien, mich auszudrücken als durch Schauspielerei. Meine Wurzeln liegen also beim Musiktheater und sind sehr solide. Je älter ich werde, desto mehr Songwriter höre ich auch und entdecke so, wo ich eigentlich hingehöre. Es ist schwer, meine Musik einzuordnen und wenn ich es müsste, würde ich sagen: Irgendwo zwischen Folk und Pop.“
Worum geht es in den Texten bei Ingrid Michaelson? Gibt es einen roten Faden? Irgendwo scheint sie ein Faible für die kleinen Unzulänglichkeiten des Lebens zu haben.
„Ich schreibe meistens über Angelegenheiten des Herzens“, gesteht sie, „und ich mag es, traurige Dinge auf fröhliche Art auszudrücken, wenn das Sinn macht. Ich mag es, sehr spezifisch auf die Zerbrechlichkeiten und Schwierigkeiten des Lebens einzugehen – das aber gut verdaulich darzustellen. Ich versuche, alles mit so wenig Worten wie möglich auszudrücken und dies mit einer Melodie zu kombinieren, die unterhalb des Textes lebt“, beschreibt Ingrid den Prozess, „es gibt aber keine spezielle Formel. Ich bin mir erst jetzt dieses Prozesses bewusst geworden. So singe ich meist einfach vor mich hin mit meiner Ukelele und hänge mich dann irgendwie an Formulierungen auf, die ich selber cool finde. Das ist ein therapeutisches Verfahren, das für mich selber ziemlich überraschend sein kann.“
Ein Aspekt auf Ingrids Scheibe, der quasi ins Ohr sticht, sind die vielschichtigen, gestaffelten Gesangsarrangements. Hat das mit der Ausbildung zu tun?
„In der Tat“, bestätigt Ingrid, „ich habe lange Zeit Gesangsstunden genommen und habe in einem Chor gesungen. Ich bin geradezu besessen von Harmonien und Arrangements. Meine Demos bestehen immer aus einem einzigen Instrument und vielen, gestaffelten Stimmen.“
Und so kommt es, dass Ingrids Musik tatsächlich insgesamt äußerst lebensbejahend daherkommt – ohne deswegen beliebig oder unernst zu wirken. Was macht denn einen guten Song für Ingrid aus?
„Ein guter Song muss zuallererst in mir das Bedürfnis auslösen, ihn immer wieder spielen zu wollen. Es ist schwierig, weil es ja Deine Arbeit ist, aber wenn man selbst von seinen Songs berührt wird, ohne zu wissen, warum, dann sind es gute Songs. Dabei ist es egal, worum es geht. Es können auch Textzeilen sein. Ich singe also manchmal etwas von mir, was mir selbst das Herz zerbricht.“
Noch bevor da irgend ein Einwand kommen könnte, bemüht sich Ingrid das klarzustellen: „Doch, doch, das ist wirklich so. Meine Texte sind ja immerhin sehr persönlich. Ich erzähle den Leuten ja schließlich persönliche Geheimnisse zu meiner Musik, die ich anders nicht mitteilen könnte. Wenn ich da säße und darüber weinte, dass ich eines Tages alleine sterben muss, dann ist das etwas anderes, als wenn ich darüber singe. Ich habe da ja quasi eine Therapiestunde auf der Bühne. Da sollte es mich schon bewegen, wenn ich über etwas singe.“
Ist es nicht schwer, Texte in dieser Art zu schreiben?
„Nein, für gewöhnlich nicht“, meint Ingrid, „wenn ich Schwierigkeiten mit einem Text habe, dann tendiere ich dazu, den Song gar nicht erst fertigzustellen.“
Wie kann man das denn kontrollieren?
„Ich lasse mich meistens vom Fluss dahintreiben“, gesteht Ingrid, „denn wenn ich da versuche, etwas zu kontrollieren, funktioniert das für gewöhnlich nicht. Ich mag es, jeden Aspekt meine Lebens zu kontrollieren – aber die Musik kann ich nicht kontrollieren.“
Ist das der Grund, warum Ingrid's Songs sich untereinander dann doch recht unterschiedlich anhören?
„Das kommt von der Produktion her“, erklärt Ingrid, „wenn Du Deinen Song-Skeletten Muskeln und Kleider verpasst, dann ist die Tendenz da, sich nicht wiederholen zu wollen und jeden Song unterschiedlich klingen zu lassen. Was aber das Songwriting betrifft, gibt es solche Absichten nicht.“
Gibt es ein spezielles Rezept für den Sound der Scheibe?
„Mein Produzent, meine Bandkollegen und ich arbeiten zusammen an den Songs“, berichtet Ingrid, „die Arrangements hatten wir bereits fertig, als wir ins Studio gingen, denn wir haben sie ungefähr ein Jahr lang live gespielt. Aber wenn ich Songs schreibe, höre ich quasi immer schon bestimmte Arrangement-Ideen in meinem Kopf. Meine Musiker müssen das dann nur noch umsetzen. Ich sage aber immer: Man braucht ein Dorf um ein Kind zu erziehen. Also arbeiten wir alle zusammen.“
Gibt es denn da noch Raum für eine musikalische Vision?
„Also alles, was ich möchte, ist etwas zu schreiben, das irgend jemand irgendwie berührt. Meine größte Angst wäre, dass jemand meine Musik hört und sie weder gut noch schlecht findet. Mir ist es da schon lieber, wenn mir jemand sagt, dass das schrecklich ist, was ich mache – nun ja, lieber wäre es mir schon, wenn er es wundervoll fände ...“
Nun ist Ingrid ja über das Web und über das Fernsehen groß geworden. Geht das heutzutage anders gar nicht mehr?
„Für manche Leute ist das schon hilfreich“, schmunzelt Ingrid, „ich gehöre zu diesen glücklichen 5 %. Diese Fernsehserien oder Werbespots in denen meine Songs verwendet wurden, haben wirklich geholfen. Aber das Wichtigste ist, dass ich mir ein gutes Team aufgebaut habe – mit Management, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Marketing und allem Drum und Dran. Als es dann also losging, hatten wir eine ganze Armee bei Fuß, die wusste, worum es ging. Man kann nämlich nicht erwarten, dass solche Sachen Selbstläufer sind, sondern muss am Erfolg hart arbeiten. Man muss jede Möglichkeit nutzen. Schließlich ist alles vergänglich, da die Leute so wankelmütig sind.“
Dazu gehört auch, so oft wie möglich aufzutreten.
„Wenn ich ein Publikum habe, das sich hinreißen lässt und mitmacht, dann gibt es eine gute Show, wenn das nicht passiert, dann bin ich gestrandet. Das ist also das Wichtigste. Musik ist für mich ein Kommunikationsmedium. Wenn die Leute mitfühlen, dann fühlt man sich auch als Künstler nie alleine.“
Songs für eine neue Scheibe gibt es auch schon. Langweilig wird es jedenfalls nicht werden.
„Keinesfalls“, pflichtet Ingrid bei „ich werde touren und schreiben so lange ich kann. Wenigstens das kann ich ja zu kontrollieren versuchen.“
Aktuelles Album: Girls and Boys (Cabin 24 / Universal)