Mary Lorson steht vor der Tür des Londoner ULU und will gerade hineingehen, als aus dem Nichts ein Security-Mann auftaucht. "Tut mir leid, Sie können hier leider nicht rein, wir haben noch nicht geöffnet”, erklärt er der Dame aus Ithaca, New York. "Da bin ich anderer Meinung”, antwortet Mary gelassen. "Ich spiele hier nämlich heute Abend!” Okay, sie sieht nicht unbedingt aus wie ein Star, und sie benimmt sich auch nicht wie einer, trotzdem macht Mary auch auf ihrem zweiten Post-Madder-Rose-Album wieder alles richtig.
Musikalisch tiefgründiger, vielschichtiger und abwechslungsreicher als das 2000er Debut von Saint Low präsentiert Mary auf "Tricks For Dawn” Songs, die wesentlich ausgereifter und erwachsener erscheinen, als wolle sie mit diesem - in den eigenen vier Wänden aufgenommenen - Album Singer/Songwriter-Größen wie Carole King den Rang ablaufen. "Ja, das war schon der Gedanke dabei”, bestätigt sie uns beim Treffen mit der WESTZEIT in London. "Ich wollte, dass die Platte wie eine Mischung aus Carole King und Rufus Wainwright klingt. Oder wie Elliott Smith. Ich wollte, dass das Album einen wirklich klassischen Klang hat. Als ich dann merkte, dass wir das mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht schaffen würden, war ich ganz schön enttäuscht. Aber zumindest bin ich beim Songwriting an die Platte so herangegangen, als würde sie so klingen können."Neben ihrem Madder-Rose-Partner Billy Cote als Co-Produzent standen ihr dieses Mal nicht nur ihre Band Saint Low, sondern sogar Lemonhead Evan Dando (als Duettpartner bei "Long Way Down”) zur Seite. "Ich wollte unbedingt einen Typen als Gesangspartner für dieses Stück. Eigentlich hatte ich dafür Ron Sexsmith im Kopf. Ich kenne ihn zwar nicht persönlich, aber wir sind auf dem gleichen Label, also rief ich ihn an und fragte, ob er ohne Gage auf meiner Platte singen würde, und er sagte zu! Allerdings hätte ich dafür nach Toronto fahren müssen, und schon bald wurde klar, dass das nicht funktionieren würde. Zur selben Zeit wurde ich bei uns in Ithaca als Support für Evan gebucht, den ich zwar kenne, aber nicht besonders gut. Bei der Gelegenheit habe ich ihn dann gefragt, ob er am nächsten Tag bei uns vorbeischauen und das Stück singen würde, und auch er sagte ja! Dazu muss ich sagen: Ich wohne in der Mitte von Nirgendwo, und es ist nun wirklich nicht so, dass ich andauernd mit berühmten Leuten rumhänge, und dann passiert es mir, dass zwei meiner größten Idole innerhalb von einer Woche zusagen, auf meiner Platte zu singen!”
Trotz Evan und der einmal mehr betörenden Stimme Marys sind es vor allem die ungemein warmen Töne der balladesken Musik und die einfallsreichen, für eine Heimproduktion geradezu bombastischen Arrangements, die zum Hinhören zwingen. Eine kleine Glanzleistung, die beweist, dass man mit viel Kreativität auch die fehlenden finanziellen Mittel ausgleichen kann und auch zu Hause wunderbare Platten aufnehmen kann. Aber nicht nur wegen "Tricks For Dawn” dürfte 2002 für Mary ein ereignisreiches Jahr werden: Im Juli wird sie Mutter, im Herbst soll ein Instrumental-Soundtrackalbum von Mary und Billy erscheinen, und auch an Billys nächstem Album als The Jazz Cannon dürfte sie beteiligt sein. Warum ihr Label das neue Album als "Artrock” bezeichnet, wird wohl ein Geheimnis bleiben, dass "Tricks For Dawn” ein kleines, großes Meisterwerk ist, dagegen hoffentlich nicht!
Aktuelles Album: "Tricks For Dawn” (Cooking Vinyl / Indigo)
Weitere Infos: www.saintlow.com Foto: Cooking Vinyl