Die Orte jugendkultureller Zerstreuung in einer Kleinstadt am Rande von Hamburg hatten bis dahin vornämlich aus Bushaltestellen und Shelltankstellen bestanden. Man kennt das: ein Kino, eine Videothek, keine gute Kneipe, aber dafür eine super Fußgängerzone! Dann kam Kurt Cobain und mit ihm andere: Das pluralistische Rockuniversum kannte keine Grenzen. Die Oberschülerinnen und Oberschüler dieser Kleinstadt gerieten ganz schön aus dem Häuschen. Denn weiße Jungs mit Gitarren machen einen schweren Eindruck auf weiße Jungs ohne Gitarren. Kurz um: Es öffnete sich ein Raum für nichtartikulierte Sehnsüchte abseits der Fußgängerzone, jenseits der Teestube. Nun, was hat das alles mit Naked Lunch zu tun?
Naked Lunch waren damals eine recht bekannte Band. Die Gitarrenwelle hatte sie aus Klagenfurt, ihrer österreichischen Heimat, herausgesogen, ihr die halbe Welt gezeigt und einen ordentlichen Major Vertrag zu Füßen gelegt. Doch die Ernüchterung folgte, langsam, zäh. Kurt Cobain wählte den Freitod. Die halbgaren, jugendlichen Visionen steckten längst in funktionalen Karteikästen. Die Kleinstadt war eigentlich immer die Kleinstadt geblieben. Klagenfurt bekam seinen Haider. Die Party war vorbei und wurde in einem letzten Schluck aus einer schalen Colaflasche gegen den verkaterten Nachdurst heruntergespült und Naked Lunch verloren ihren Major Deal. "Ende der 90er wurde unserer Vertrag gekündigt. Wir und unsere Band standen menschlich, künstlerisch und existentiell vor einigen Trümmern. Seit dieser langen Zeit hat man nichts von uns gehört, was eben nicht heißt, dass wir musikalisch untätig gewesen wären. Wir mussten uns nur völlig neu organisieren. Haben ein eigenes Studio aufgebaut und relativ zügig angefangen, an einer neuen Platte zu arbeiten. In dieser schwierigen Phase haben wir als Band beschlossen, die Platte in kompletter Eigenregie fertig zu stellen. Von der Musik bis zum Design. Hilfe wollten wir nicht, also mussten wir finanziell in Vorleistung treten. Wir spielten am Rande unser existentiellen Möglichkeiten.", erzählt Oliver Welter, Sänger und Gitarrist der Band.2002 war die Platte dann fertig. Doch das Ergebnis liegt erst jetzt, 2004, vor und heißt Songs for the Exhausted. Der Titel steht exemplarisch für den Schaffensprozess der diese Platte begleitete. Für das Leben und Musizieren in persönlich schwierigen Verhältnissen. "Wir nahmen die Platte Blockweise auf, da wir zwischen den Songs sehen mussten, wie wir unser Leben finanziert bekamen. Unser Keyboarder war zwischenzeitlich wohnungslos. Wohnte im Winter in unserem unbeheizten Studio, ohne fließendes Wasser. Klar, dass das keine fröhliche Platte geworden ist. Es ist eine Platte die unsere persönlichen Eindrücke, unsere negativen Erfahrungen mit dieser Welt beschreibt. Wir sind Kulturpessimisten. Auf dieser Welt bis du auf dich alleine gestellt. Wir waren auf uns alleine gestellt. Dies ist der Grundtenor unserer neuen Platte."
Trotz all dieser Umstände und ohne die Bereitschaft wieder Kompromisse einzugehen, fand man eine Plattenfirma."Wir haben dann 2002 unsere Platte allen möglichen Firmen angeboten. Es hagelte tausend Absagen und wir stellten uns darauf ein, das Album selbst herauszubringen, was uns nach all den Strapazen auch nichts mehr ausgemacht hätte. Aber durch einen Glücksfall fing Patrick Wagner (Surrogat) gerade an für Motor zu arbeiten, und der wollte unbedingt diese Platte machen. Dafür sind wir ihm sehr dankbar. So können wir unsere Zusammenarbeit mit dem Label auf Leute beschränken, die wir kennen und in Ruhe weiter arbeiten."
Rockmusik ist wieder da. Naked Lunch sind wieder da, doch im Gegensatz zum Ersteren, mit Blessuren, gereifter, ohne die jubelschrille Euphorie. Dafür mit dem Blick auf beide Seiten des erneut rollenden Rubels.