Momentaufnahmen von der Schattenseite des amerikanischen Traumes: Auf seinem ganz ausgezeichneten zweiten Album, ´Big Swimmer´, nutzt das unkonventionelle Liverpooler Indie-Folk-Duo King Hannah die biweilen verstörenden Reiseerlebnisse seiner ersten USA-Tournee, um noch tiefer in das Americana-Universum abzutauchen, das ihm schon auf dem feinen Debüt ´I'm Not Sorry, I Was Just Being Me´ den Weg gewiesen hatte, und decken so stilistisch, thematisch und energetisch ein deutlich breiteres Spektrum als zuvor ab.
Auf ihrem LP-Erstling warfen King Hannah vor zwei Jahren einen sehnsuchtsvollen Blick über den Großen Teich und fanden im Dunstkreis von Blues, Country, Folk und Rock zu ihrer eigenen, sanft psychedelisch umspülten Ausdrucksform voller Ecken und Kanten. Die allenthalben gelobte Platte ermöglichte Gitarristin und Sängerin Hannah Merrick und Gitarrist Craig Whittle auch eine erste ausgiebige Gastspielreise durch die USA, auf der sie sich immer wieder mit der prekären Realität abseits der blendenden Lichter der großstädtischen Zentren konfrontiert sahen. Erfahrungen, die sich nun tief in die oft wohlig düsteren Songs ihres zweiten Albums eingegraben haben."Wenn man aus Europa kommt, scheint es wie ein unerfüllbarer Traum, nach Amerika zu gehen. Dann tatsächlich dort zu sein – noch dazu gleich mit unserem ersten Album! –, war ein großes Glück für uns", sagt Whittle, als wir ihn und Merrick zum Zoom-Interview treffen. "Deshalb wollten wir jedes einzelne Detail unserer Erlebnisse in diesen sechs Wochen in uns aufsaugen. Es ist seltsam, dort zu sein, denn einerseits fühlt sich vieles vertraut an, weil man durch Filme und Fernsehen damit aufgewachsen ist, aber es gibt auch unglaublich viele Dinge, die einem vollkommen fremd sind, wenn man aus Europa oder Großbritannien stammt. Hannah hat ganz bestimmte Momente festgehalten, die wir dort erlebt haben und die uns im Gedächtnis geblieben sind, weil sie uns wütend gemacht haben!"
Tatsächlich geht es Merrick bei ihren kunstvoll detaillierten Alltagsbeobachtungen weniger darum, komplette Geschichten vor ihrem Publikum auszubreiten. Vielmehr wirft sie Schlaglichter auf die Situationen, die bleibenden Eindruck auf sie gemacht haben, sei es der Junge ohne Schuhe unter einer Brücke in Philadelphia, der von einem Mann mit einem fiesen Schnurrbart und einem Hammer misshandelt wird (´Milk Boy´), oder die unwirkliche Szenerie aus Tankstellen, Waschmaschinen, Sandwichautomaten und halb beleuchteten Schnellrestraurant-Schildern, die ´Somewhere Near El Paso´ beherrscht.
"Ich denke, wir lieben beide die gleiche Art des Songwritings", sagt Whittle. "Es muss von einem sehr persönlichen Ort kommen und es muss mit kleinen, sehr visuellen Details gespickt sein. Die Texte handeln von sehr intimen Momenten, und das ist etwas, was Hannah etwa bei ´Somewhere Near El Paso' so gut einfängt: Sie beschreibt diese kleinen, unbedeutenden Dinge, die sie gesehen hat, wie zum Beispiel einen Automaten oder ein Denny's-Schild, und das deutet dann eine ganze Welt dahinter an, ohne dass sie es ausformulieren muss. Genau das ist es, was wir am Songwriting lieben, diese Momentaufnahmen, ganz egal, ob sie nun düster oder romantisch sind."
Dass diese Episoden so fesseln, liegt nicht zuletzt daran, dass Merrick zwar weiterhin oft ihrem herrlich lethargischen, stets hypnotisierenden Sprechgesang treu bleibt, sich dabei aber nun nicht mehr hinter einer Wand aus Hall versteckt und ihre Performance so viel direkter und unmittelbarer wirkt als zuvor.
"Viel Hall zu benutzen, maskiert ganz viele Fehler, vor allem gesangliche, und deshalb wird man schnell dazu verführt, darauf zurückzugreifen", erklärt Merrick. "Dass wir das dieses Mal weniger oft getan haben, zeugt von einem gesteigerten Selbstbewusstsein."
Wie selbstbewusst die beiden inzwischen zu Werke gehen, zeigt sich auch darin, dass die Gesangsgastauftritte der großartigen Sharon Van Etten – eine langjährige Unterstützerin der Band – beim Titelstück und bei ´This Wasn't Intentional´ kaum mehr als eine Fußnote sind. Viel bedeutsamer ist, dass die Songs auf ´Big Swimmer´ die vielen neuen musikalischen Eindrücke widerspiegeln, die King Hannah seit ihrem Erstling aufgeschnappt haben. Dienten Merrick gesanglich damals vor allem Mazzy Star als leuchtendes Beispiel, waren es dieses Mal Joni Mitchell, Siver Jews und ganz besonders Bill Callahan, dessen betont trockene Vortragsweise in vielen der neuen Liedern durchscheint, während sich Whittle jenseits des Einflusses von Neil Young und Kurt Vile neue Herausforderungen sucht, denn gleichzeitig spielen dieses Mal auch Dynamik, Tempo und Energie eine viel größere Rolle. Das unterstreicht, dass die Band inzwischen ein viel besseres Verständnis für ihre eigenen Stärken hat.
"Ich erinnere mich, dass ich vor den Aufnahmen dachte: Wir müssen mehr mit Dynamik spielen – wir wollten dieses Laut-leise-laut-leise-Ding", verrät Merrick. "Wir hatten einen unserer alten Songs live umstrukturiert und die gesteigerte Dynamik kam beim Publikum wirklich gut an, nicht zuletzt deshalb ergab es Sinn, das auf dieses neue Album zu bringen."
Die von Ali Chant (PJ Harvey, Aldous Harding, Squirrel Flower) produzierte neue Platte setzt aber im Gegensatz zum brütenden, oft etwas störrisch klingenden Debütalbum nicht nur auf mehr wuchtige Rock-Elemente, sondern vor allem auch auf echtes Live-Feeling und die Magie des Zusammenspiels von Merrick und Whittle mit ihrer Rhythmusgruppe, Conor O'Shea am Bass und Jake Lipiec am Schlagzeug. Whittle erinnert sich:
"Als wir auf unserer Suche nach einem Produzenten mit Ali Chant sprachen, war sehr schnell klar, dass er das gleiche Ethos wie wir verfolgte. Man sorgt dafür, dass alles so gut wie möglich klingt, und dann fängt man die Performances live ein. Anschließend fügt man die kleinen Overdubs hinzu, die unausweichlich sind, aber im Großen und Ganzen kommt der Sound von Menschen, die zusammen in einem Raum spielen. Wir haben in den letzten zwei Jahren so viele Shows absolviert und dabei immer das Miteinander geliebt, deshalb wollten wir das auf der Platte festhalten."
Auch wenn ´Big Swimmer´ ohne Frage für King Hannah einen großen Schritt nach vorn markiert, ist dem Duo eine lange, nachhaltige Karriere, die sich wie viele ihrer besten Songs langsam aufbaut und wächst, wichtiger als ein kurzfristiger Erfolg auf der Trendwelle, den derzeit so viele Acts anstreben.
"Wir wollen besser und besser werden in dem, was wir tun, sodass unser drittes Album wieder etwas ganz Neues ist und etwas, auf das wir stolz sein können", fasst Merrick abschließend das Credo der Band zusammen. "Wir wollen einfach die nächste Stufe erreichen und dabei so gut sein, wie es uns möglich ist!"
Aktuelles Album: Big Swimmer (City Slang / Rough Trade)
Weitere Infos: www.kinghannah.com Foto: Katie Sylvester