Was lange währt: Auf ihrem brillanten Album-Erstling ´Choosing´ löst die britische Singer/Songwriterin Sophie Jamieson das Versprechen ein, das sie schon vor Jahren mit ihrer verheißungsvollen ersten EP gegeben hatte. Auf den Schultern von Gigantinnen wie Sharon Van Etten, Lisa Germano oder PJ Harvey begeistert sie nicht nur mit klanglich herrlich unverfälschten Songs, die im Spannungsfeld von Intimität und Intensität sofort unter die Haut gehen, sondern auch durch die entwaffnende Ehrlichkeit ihrer Texte, mit denen sie ihren Weg vom Abgrund der Selbstzerstörung zurück ins Licht nachzeichnet.
Ein wenig hat Sophie Jamieson kurz vor der Veröffentlichung ihres Debütalbums das Gefühl, dass sie noch ganz am Anfang steht, tatsächlich aber faszinierte die in London heimische Singer/Songwriterin bereits vor fast zehn Jahren mit ihrer wunderbaren EP ´Where´ und empfahl sich Anfang 2014 mit den hinreißenden Konzerten ihrer ersten Deutschland-Tournee auch hierzulande als eine der bemerkenswertesten Vertreterinnen des britischen Indie-Folk. Jamieson schien nur einen Schritt entfernt vom großen Durchbruch, doch dann verschwand sie erst einmal in der Versenkung. Die Veröffentlichung einer weiteren EP scheiterte, weil sich die Musikerin den falschen Produzenten ausgesucht hatte, finanzielle Zwänge und persönliche Rückschläge – dass auf ´Choosing´ mit ´Sink´ und ´Empties´ gleich mehrere Songs erschütternd detailliert das Ringen mit Alkoholismus beschreiben, darf als eine Erklärung für die lange künstlerische Auszeit dienen – führten dazu, dass Jamieson erst 2020 mit den beiden EPs ´Hammer´ und ´Release´ wieder von sich hören ließ.„Ich war lange Zeit ziemlich verloren“, gesteht sie im WESTZEIT-Interview. „In den ersten paar Jahren war ich nur im Überlebensmodus. Ich hatte einen emotionalen Nervenzusammenbruch und hatte viel Gewicht verloren. Ich musste erst wieder lernen, zu essen und auf mich selbst aufzupassen. Ich musste ergründen, welche Fähigkeiten ich außerhalb der Musik hatte und wie ich sie würde anwenden können."
Erst rückblickend wurde ihr bewusst, dass diese schwierige Zeit auch durchaus lehrreich gewesen ist.
„Ich denke, was ich daraus gelernt habe, war, dass ich komplett zusammenbrechen und mich trotzdem wieder aufrichten kann“, sagt sie kämpferisch. „Das habe ich seitdem noch ein paar Mal im Kleinen gemacht, und das hat mir gezeigt, dass ich inzwischen über ein gewisses Maß an Belastbarkeit verfüge. Mein Songwriting hat das allerdings nicht sonderlich beeinflusst, denn für gewöhnlich versuche ich nicht, über spezielle Themen zu schreiben. Ich lasse das einfach geschehen. Oft habe ich deshalb Songs aus der Tiefe eines Lochs geschrieben."
Sie lacht, aber es ist genau die emotionale Verwundbarkeit, der ungefilterte Ausdruck von Kummer und Angst, der ´Choosing´ so bewegend macht. Denn obwohl Jamieson glücklicherweise inzwischen genug Distanz zu den Ereignissen hat, die sie in diesen Songs beschreibt – die brutale Ehrlichkeit, mit der sie den Kampf mit ihren Dämonen schildert, fesselt vom ersten Ton an.
Klanglich macht sie derweil einen Schritt zurück nach vorn. Auf ihren 2020 mitten in die Wirren der ersten Pandemie-Lockdowns hinein veröffentlichten Comeback-EPs hatte sie sich ein Stück weit vom Urban Dream Folk des Erstlings ´Where´ gelöst, der sie in die Sphären von Sibylle Baier und Mazzy Star katapultieret hatte, und war mit merklich mehr elektronischen, experimentellen Elementen dem Zeitgeist ein Stück weit entgegengekommen. Ihre wichtigste Bezugsperson dabei war Steph Marziano, die nun auch das Album produziert hat und auch schon mit Hayley Williams und Bartees Strange, aber auch mit Ex:Re, Sam Smith und Mumford & Sons zusammengearbeitet hat. Im Studio herrschte damals eine von Selbstbewusstsein und Positivität, aber auch von einem gewissen Freiheitssinn und dem Verzicht auf Perfektionismus gekennzeichnete Atmosphäre, von der Jamieson rückblickend immer noch mit leuchtenden Augen spricht.
„Unsere Zusammenarbeit damals war völlig mühelos, obwohl ich keine feste Vorstellung davon hatte, wie die Songs klingen sollen“, erinnert sie sich. „Ich war einfach glücklich, wieder Musik aufnehmen und veröffentlichen zu können, und ich bin auch heute noch davon begeistert, wie Steph es mir ermöglicht hat, mich in unbekannte Gewässer vorzuwagen und neue Sachen auszuprobieren, um herauszufinden, wie sie in meine Lieder passen."
Für ´Choosing´ rudert Jamieson nun dennoch zurück und ließ sich auf ihrer Suche nach ungekünstelten Songs nicht zuletzt auch durch die „Weniger ist mehr Ästhetik“ von Künstlerinnen wie Julia Jacklin, Aldous Harding und – in ganz besonderem Maße – vom letzten Soloalbum der Big-Thief-Frontfrau Adrianne Lenker inspirieren.
„Als es darum ging, das Album einzuspielen, bin ich zunächst mit der gleichen Einstellung an die Arbeit gegangenen wie zuvor bei den EPs“, verrät sie. „Ich hatte das Gefühl, zusammen mit Steph schon so viel Gutes gemacht zu haben, aber noch nicht am Ende angekommen zu sein. Ich wollte sehen, was sich da noch verbarg. Gleich während der ersten Tage der Aufnahmen wurde mir dann allerdings plötzlich und aus heiterem Himmel klar, dass ich Simplizität und organische Naturbelassenheit in den Mittelpunkt rücken wollte, die wir mit der Weiterverfolgung des eher experimentellen Pfades nicht hätten erreichen können."
Im Studio bestärkte Marziano Jamieson in ihrem Wunsch nach einem schlichten Soundgewand, nachdem die zwei mit dem ganz auf Stimme und Klavier konzentrierten Song ´Crystal´ gleich zu Beginn der Aufnahmen ein Erfolgsrezept gefunden hatten.
„Es gab einige Songs, für die ich Demos gemacht und es dabei vielleicht etwas übertrieben hatte, und als ich dann ins Studio kam, sagte Steph nur: ´Du brauchst all das Beiwerk nicht, das ist auch ohne wunderschön.´ Deshalb gibt es ein, zwei Songs in diesem Stil auf der Platte, aber im Allgemeinen mag ich auch die großen Ausbrüche. Mir gefällt es, wenn etwas ganz klein beginnt und du dich am Ende fragst: ´Wie genau hat das Lied nochmal angefangen? Ist das noch der gleiche Song?´“
Letztlich ging es also darum, den Liedern ihren Willen zu lassen. Die Songs, die nach Ruhe und Intimität verlangten, bekamen die nötige Luft zum Atmen, bei den Nummern, die nach großem Feuerwerk riefen, wurde dies auch abgebrannt.
Tatsächlich spielt Jamieson auf ´Choosing´ mehrfach sehr effektvoll mit der unwiderstehlichen Dynamik von laut und leise – das Finale des Openers ´Addition´ wurde in der britischen Presse bereits treffend als „Gitarrengewitter mit einem Mogwai-würdigen Crescendo“ beschrieben –, gleichzeitig sorgt der oft kunstvoll reduzierte Sound auch dafür, dass Jamieson ihrer Stimme inzwischen viel mehr Raum gibt, nachdem sie bei früheren Aufnahmen zumeist unter viel Hall begraben worden war und viel distanzierter klang.
„Ich habe das Gefühl, dass meine Stimme nun eine völlig andere ist als vor meiner Auszeit“, sagt sie. „Früher habe ich mich nie als Sängerin betrachtet. Ich denke, das war Teil dieser ganzen Sache, einfach herumzustolpern und nicht wirklich zu wissen, was ich tue oder warum – auch wenn es den Leuten ja gefallen zu haben scheint. Wenn ich mir heute meine alten Aufnahmen anhöre, dann wird mir bewusst, dass ich damals nicht wirklich von meiner Stimme Besitz ergriffen habe. Es steckte nicht viel dahinter."
Sie lacht, bevor sie fortfährt:
„Vielleicht musste mir einfach ein paarmal das Herz gebrochen werden, vielleicht musste sich mein Körper ein wenig entwickeln und entspannen? Jedenfalls habe ich jetzt das Gefühl, dass in puncto Tiefe und Überzeugung viel mehr hinter meiner Stimme steckt, aber vielleicht bin ich heute auch einfach weniger verlegen ob ihrer Unzulänglichkeiten."
All das trägt dazu bei, dass ´Choosing´ betont eindringlich, aber nie rührselig klingt und Jamieson so eine Platte gelungen ist, deren emotionale Wucht noch lange nach dem letzten Ton nachhallt.
Aktuelles Album: Choosing (Bella Union / PIAS / Rough Trade)
Weitere Infos: www.facebook.com/sophiejamiesonmusic Foto: Tatjana Rueegsegger