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MAX ANNAS

Morduntersuchungskommision - Der Fall Daniela Nitschke

Rowohlt, 367 S., 22,00 EUR

Fall drei für Otto Castorp. Der Oberleutnant der DDR-Kriminalpolizei ist nach einer, seine traumatischen Erlebnissen beim "Fall Melchior Nikoleit" nur unzureichend therapierenden Auszeit von Gera nach Berlin befördert (oder abkommandiert?) worden. Sein Start in das Hauptstadt(der DDR)Leben ist nicht nur wegen der karg möblierten Wohnung eher traurig (seine Frau ist mit den Kindern in Gera geblieben, die Liebe war leider sowieso erkaltet), auch die Arbeit in der zweiten Berliner Morduntersuchungskommision (gebildet zur Entlastung der ersten) bringt nicht nur Freude. Weil: neben der Aufklärung von Tötungsverbrechen haben sich die Herren Kriminalisten auch mit profanster Staatspolizeiarbeit zu befassen, nämlich mit der Einhegung Unruhe stiftender Jugendlicher. Wieso muss der Klassenfeind auch direkt an der Mauer Rockkonzerte abhalten?! Eine schlimme Provokation, die Castorp aber immerhin einen kleinen Blick in die (vergleichsweise) ungezwungene Lebensweise des unangepassten Untergrunds der Ostberliner Punks verschafft. Die kurze Einbindung der Saalfelder Band "Gefahrenzone" wirkt dabei zwar etwas bemüht, aber die Reflexion der DDR-Boheme geschieht hier dennoch mit einer Anteilnahme, die man bei einem in Köln (also auf der anderen Seite der Elbe) geborenen Autor nicht unbedingt erwarten darf (wobei sich Annas schon mit seinen ersten beiden "MUK"-Büchern als genauer Beobachter und einfühlsamer Schreiber zeigte). Doch die Kripo-Aufgaben lassen nicht lange auf sich warten, zwei sehr unterschiedliche Menschen, die fast zeitgleich und nur wenigen Straßen voneinander entfernt zu Tode kamen, stellen die Genossen vor jede Menge Rätsel. Der Mann, der in einem Hinterhof auf der Kellertreppe liegt, trägt Sachen, die Ost-Geschäfte nicht im Sortiment haben: Adidas-Schuhe und Jeans, die nicht von Boxer oder Wisent sind. Und eine Digitaluhr! Ein Westler, oh weh – das ist Sache der "Spezialkommision", also der Stasi. Und in einem anderen Hinterhof liegt eine junge Frau, die gefallen ist. "Tief gefallen", wie der Stasi-Mann (mit Bart) anmerkt. Wieso ein Schweizer JazzTrommler und die Kantinenkraft einer Druckerei in Neubrandenburg doch miteinander zu tun haben, was die DDR jenseits der offiziellen Solidaritätsbekundungen noch so alles unternahm, um dem ANC im Kampf gegen Bothas Apartheidsregime zu helfen und warum bei der Stasi ein wichtiger Mann aus der Afrika-Abteilung spurlos verschwunden ist, das alles (und noch einiges mehr) verbindet und verstrickt Annas in diesem Buch höchst kunstvoll. Eine kleine Ungenauigkeit ist ihm aber auch dieses Mal unterlaufen: Castorps neue leere Wohnung liegt am Platz der Vereinten Nationen. So heißt der aber erst seit 1992, vorher war’s der Leninplatz. Trotzdem: eine spannende und auch informative Geschichte über eine wenig bekannte Seite der (Außen)Politik der DDR im Speziellen und ihre letzten Tage im Allgemeinen.
Weitere Infos: www.rowohlt.de/buch/max-annas-morduntersuchungskommission-der-fall-daniela-nitschke-9783498002695


September 2022
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