Franz Erhard Walther (*1939) stieß in den 1960er-Jahren mit seinem Kunstverständnis noch auf großen Widerstand. Er wurde für seine Arbeit mit Stoff von Künstlerkollegen als Schneider belächelt. Inzwischen ist der 80-jährige Künstler, dem 2017 der Goldene Löwe der Venedig Biennale verliehen wurde, nicht mehr aus der Kunstgeschichte wegzudenken. Jenseits des klassischen Verständnisses von Skulptur und Malerei hat er einen neuen prozessualen Werkbegriff formuliert, der das Publikums als Akteur mit einbezieht. Das Haus der Kunst widmet in der Ausstellung „Shifting Perspectives“ seinem visionären Schaffen eine große Retrospektive mit über 250 Arbeiten.
Abb. oben: Edition Left Arm, 2019, Baumwollstoff / Cotton, 69 x 24 x 3 cm, Auflage: 10 und 2 A.P.Abb. unten: Versuch, eine Skulptur zu sein, 1958, Collection of The Franz Erhard Walther Foundation, Foto: Egon Halbleib, Franz Erhard Walther Foundation Archives, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Farbige Stoffe, in Stapel gefaltet, gerollt, Formen umhüllend oder als Wandformationen aufgehängt, warten auf ihre Aktivierung und Verwandlung in Kunstwerke. Die Arbeiten von Franz Erhard Walther können zum Teil angezogen oder betreten werden, häufig in kommunikativer Abstimmung mit mehreren Personen gleichzeitig. Es gibt mal mehr, mal weniger präzise Handlungsanweisungen, aber auch viel Freiheit, wie die Objekte aktiviert werden können. In der Ausstellung im Haus der Kunst finden diese Werkaktivierungen im großen Saal der Ausstellung in Kooperation mit der der Münchener Initiative TanzQuelle statt.
Erst die Möglichkeit der Interaktion mit den Objekten, die Handlung der Besucher*innen, macht die Objekte von Franz Erhard Walther zum Kunstwerk. Den besonderen Aggregatzustand des Werkseins als Handlungsobjekt nennt der Künstler in seiner ästhetischen Terminologie die ‚Handlungsform‘. Aber auch dem Ruhezustand, in den die Stoffobjekte zurückfallen, wenn sie nicht aktiviert sind, kommt eine wesentliche Bedeutung zu: Im unbenutzten Zustand, der ‘Lagerform‘, wenn es verpackt da liegt, oder als bereites ‚Werkstück‘, dessen Potenzial in der Vorstellungskraft der Betrachter*innen imaginiert wird. Der komplette Kreislauf dieser Aggregatzustände definiert das Kunstwerk in seiner prozessualen Gesamtheit.
Indem Franz Erhard Walther das Publikum als Akteur einbezieht, nimmt er sich gleichzeitig als Urheber zurück, was umgekehrt für die Qualität des Werks bedeutet, dass das Publikum in besonderem Maße gefordert wird, wenn sich das Werk erschließen soll. Der interagierende Körper wird zum Werkvollender, gleichsam zum bedeutungstragenden Sockel für die Kunst. Diese radikale Ablösung von einer dominanten Autorschaft findet sich schon in seinem Frühwerk. Damals definiert das Prinzip der Zufälligkeit die Bildgestaltung und er beschäftigt sich mit der Veränderbarkeit des Raumes durch serielle bzw. formale Anordnung von Objekten.
Die Hinwendung zum Material Stoff und der körperbezogenen prozessualen Ästhetik manifestieren sich im dem Schlüsselwerk „Vier Köperformen“ (1963). Walther entwickelt Aktivierungsobjekte aus gefülltem naturfarbenem Nessel. Die einteiligen Formen in menschlichen Körperproportionen betonen das Organische und laden zum Andocken mit dem Körper ein. Endgültig den Durchbruch erlebt Walthers Konzept der Partizipation durch den „Ersten Werksatz“, bestehend aus 58 aktivierbaren Stücken (1963 – 1969). Bei der Hälfte dieser Objekte braucht es für ihre Aktivierung mindestens zwei Personen. Daraus ergeben sich immer neue zwischenmenschliche Situationen und Handlungsszenarien, die vom Künstler in ihren Eckpunkten definiert sind.
Die Ausstellung „Shifting Perspectives“ im Haus der Kunst präsentiert umfassend die unterschiedlichen Entwicklungslinien im Œuvre Franz von Erhard Walther. Dabei rückt der Kern von Walthers Praxis – die mediale Verknüpfung – in den Mittelpunkt. "Mit seinem Verständnis vom Körper als Teil des Werks fordert Walther die traditionelle Bildlogik heraus. Er schafft Gegenbilder zum Bild", so Jana Baumann, Kuratorin der Ausstellung, "und ist inzwischen Referenzpunkt auch für die jüngste Künstlergeneration geworden."
Franz Erhard Walther. Shifting Perspectives (- 28.11. 2020) Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, München hausderkunst.de