Situativer Einstieg. 1986, Sigmar Polke war 45 Jahre alt, da hackte ich für Nummer 8/86 der WESTZEIT, das ich damals zusammen mit Holger Seeling rausgegeben hatte, 30 Zeilen zu Polke in eine Brother-Typenradmaschine. Die Vorlagen für unsere zweisprachige Publikation entstanden durch wildes Copy-Pasting manuell bearbeiteter Fotokopien. Anlass für meinen Text war die Präsentation großformatiger Lackbilder, die zuvor auf der Biennale 1986 gezeigt worden waren, im Mönchengladbacher Museum Abteiberg. Faktor Zeit 35 Jahre später klickt der inzwischen ergraute Autor dieser Notiz wieder in die Tasten, diesmal eines Macbooks. Der Alchimist unter den deutschen Malerfürsten weilt seit 11 Jahren nicht mehr unter uns und der Aachener Kunststudent Gregor Jansen, der sich damals so köstlich über meine Polke- Zeilen amüsiert hatte, ist Direktor der Düsseldorfer Kunsthalle und Co-Kurator der Sigmar Polke zum 80. Geburtstag gewidmeten Schau Produktive Bildstörung. Damit ist Produktive Bildstörung auch eine sehr persönliche Wiederbegegnung mit dem Künstler. Kathrin Barutzki und Nelly Gawellek von der Anna Polke-Stiftung bilden mit Jansen das Kuratoren-Trio, das ausgewählten Polke-Werken solche junger Zeitgenossen zur Seite stellt. Die unterhaltsame Auswahl tritt pointiert mit den Werken des Altmeisters in Dialog, bringt durchaus gemischte Gefühle ins Rutschen und tritt pralle Assoziationslawinen los. Polke, (* 13.02.1941 Oels/ Niederschlesien; † 10.06.2010 Köln), beobachtete die bundesrepublikanischen Verhältnisse genau. Besonders triviale Alltagsbilder triggerten seine Phantasie: Aus dem trügerischen Glanz und der wohlfeilen Glätte von Werbung und Warenästhetik, den lauten Schlagzeilen des Boulevards und den vom Bürgertum verachteten Comics, Groschenromanen und Pornos rührte der Spötter seine ironisch-ätzenden Bildercocktails, an denen wir uns heute noch mit Staunen laben.
Abb.oben: Sigmar Polke, Primavera, 2003, Acryl auf Dekostoff und Polyestergewebe, 300 × 500 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Dauerleihgabe der NRW.BANK. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021Abb. unten links: Kerstin Brätsch, Holo Mai Pele, Is It You or Perhaps You? (Mund der Wahrheit), 2012–16, aus der Serie All Ready Maid Betwixt and Between, Udo und Anette Brandhorst Sammlung, Foto: Andrea Rosetti
Abb.unten rechts: Raphael Hefti, Polycrystals, 2020, Bismuth, 22 × 15 cm, Courtesy der Künstler
Glitch und Distortion
Kennzeichnend für Polke war nicht nur der Einsatz unkonventioneller Malgründe und giftiger Pigmente und seine Arbeit mit ironischen und neu kontextualisierten Zitaten aus Pop-Art, Trivialkultur, Presse und anderen visuellen (Massen-)Medien. Hierbei mögen nordamerikanische Kunstpraktiken wie Free Mind Flow, Cut and Paste, Happening und Fluxus, Otto Mühls "Zeugs" in Polkes Schaffen nachhallen, die er mit Elementen des europäischen Bilderfundus anreicherte, die vom Dürerschnörkel bis zu grobgerasterten Zeitungsmotiven reichten. Polkes typische Rasterpunkte mögen bisweilen wie serigrafiert wirken, wurden aber in akribischer Fleißarbeit Punkt für Punkt gemalt.
Schon in den wilden 60ern, als er an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte und in einer Hippiekommune wohnte, bereitete Polke nämlich auch das Experimentieren mit Fotokopierern, ephemeren und unter Zeit, Licht- und u.a. radioaktiver Strahlung sich verändernden Materialien und Medien diebisches Vergnügen. Zufall, Unfall und Einfall waren seine Verbündeten auf dem Weg zu überraschenden, witzsprühenden Bildfindungen, mit denen er regelmäßig Beifall erntete. Fotografiert hat der weitgereiste Polke im Übrigen auch, wie eine von Polke-Sohn Georg Polke bestückte Ausstellung 2018 in Leverkusen zeigte.
Eine weitere Inspirationsquelle war Polkes soziales Umfeld, seine ’Clique’ der u.a. Katharina Sieverding und Candida Höfer angehörten. Von 1972–78 lebte Polke auf dem Gaspelshof im niederrheinischen Willich in einer Art Hippiekommune mit allen zeittypischen Hedonismen. Hier entstand, in Gruppenarbeit, durch zusammenfügen, collagieren, übermalen so manches Artefakt, das den Kunstmarkt nie erreichte, weil es z.B. im Ofen landete.
Von 1973 bis 1975 (-78?) auf dem Gaspelshof entstandenen Telefonkritzeleien auf 70 x 100 Zentimeter großen Papierbögen erinnert an diese damals nicht unüblichen kollektiven Collagen.
Wie aus einer Laune heraus seltsam verrutschte Fotokopien zeitigen psychedelisch deformiert anmutende, analoge Neuschöpfungen wie ’Der Teufel von Berlin’ - ’Produktive Bildstörungen’, wie sie erst viel später digital möglich waren.
Polke war eben ein Pionier des analogen Bildersamplings und Layerings, aber auch anderen der Malerei benachbarten, ihr bisweilen assistierenden, künstlerischen Disziplinen.
Nicht auszudenken, wie er die aktuellen digitalen Möglichkeiten genutzt hätte. Das in Polkes Schaffen allgegenwärtige ’Murphy’s Law’ inspiriert eine Auswahl von acht jungen ZeitgenossInnen, deren Arbeiten ausgewählten Polke-Werken unter drei von Polke entlehnten Titeln dialogisch zugesellt werden:
1. Etage/ Halle Kinosaal
"Desastres und andere bare Wunder" konzentriert sich auf das Eigenleben und die Wirkmacht der Materialien selbst, die auf vielfältige Weise zu Störungen im Bild führen.
Raphael Hefti
Der Schweizer Materialmanipulator und Performancekünstler erzählt bei der Begehung der Ausstellung von der Belichtung meterlanger Fotopapierbahnen in einer stockdunklen Tiefgarage. Er hatte Lycopodium (Bärlappsporen) auf ihnen ausgestreut, dieses angezündet um damit die Fotopapiere zu belichten. Die in Rot-und Gelbtönen in irisierender Farbigkeit strahlenden, hochglänzenden Papierbahnen sind ein Blickfang im unteren Saal der Kunsthalle und fallen schon von der Empore des 2. Stocks ins Auge.
Sigmar Polke
Für ’Desastres und andere bare Wunder II’ machte Polke von einem ein Jahr zuvor bereits in Kaffee, Himbeerschnaps und Spülmittel ’entwickelten’ Negativstreifen u.a. chemisch manipulierte, vergrößerte Abzüge. Die so entstandenen Desastres zeigen das ästhetische Überraschungspotenzial solcher ’Glitches’.
Sigmar Polke
Der nackte Landwirt der hinter seinem Zossen den Pflug in die Scholle drückt, ist nicht der einzige nach Fotovorlage gemalte Nackte in dieser Machart. So ganz will sich mir der Bildwitz auf cheap anmutendem Dekostoff nicht erschließen, aber ein bisschen Geheimnis macht Polkes Rebus nur noch interessanter.
Man sieht der Serie manipulierter Fotokopien förmlich an, welchen Spaß Polke am Kopierer gehabt haben musste. Während der Lichtstreifen unter der Vorlage hindurchschnurrt, reicht eine kleine Schwenk- oder Wischbewegung, um bizarre Verzerrungen zu erzeugen, die schnell wundersam psychedelisch wirken.
Avery Singer
Die Künstlerin (*New York, 1987) jongliert in ihrer Malerei mit der fragilen Balance von Perfektion und willkürlicher Störung. Verwirrend hermetisch, makellos glatt und kühl distanziert wirken Singers räumliche Tiefe simulierende Airbrush-Arbeiten, die unter Verwendung von Daten geplant werden und dann mittels Schablone vollendet werden. Sie behauptet: "I think paintbrushes would make me think too much."
Die Städelschule-Absolventin (2008) befasste sich während ihres Studiums mit Performance-, Videokunst und Bildhauerei mit Holz, Metallguss und Schweißen. Nach ihrem Abschluss entdeckte sie ihre Kunstform durch das Experimentieren mit der Software SketchUp und schuf ein Schwarz-Weiß-Gemälde auf Grundlage einer digitalen Illustration. Seitdem arbeitet Singer digital mit Computern und Industriematerialien. Einerseits, um die Spuren der Künstlerhand zu eliminieren und sich zum Anderen mit der Malereitradition und dem Erbe der Moderne auseinanderzusetzen.
2. Etage, Empore
"Sieht man ja, was es ist"
Der Titel stellt die Frage nach Indienstnahme und Wahrheitsgehalt von Bildern und rückt das politische Potenzial der Bildstörung ins Zentrum. Überwachung und Kontrolle, die ’Hierarchisierung’ von Visuals sind Thema.
Trevor Paglen
In ’Suchbildern’, mit Himmeln die flächenfüllend aus winzigen Bildelementen bestehen, gilt es den ’Fehler’ im redundanten Einerlei, nämlich die Drohne zu finden. In einem Video, basierend auf gehackten Satellitenaufnahmen sensibilisiert Paglen für die nötige emotionale Distanz, die das Töten auf Distanz zu einem angenehmen Nine to Five-Job machen könnte.
Zeigt das Still einer Enthauptungsszene aus einem Video, bei dem der IS die Videoplattform Youtube als reichweitenstarken Distributionskanal genutzt hatte. Das transparente Trägermaterial soll die Durchlässigkeit des Internets, seine entgrenzenden Effekte auf ’Wirklichkeit’ und ’Fiktion’ be-greifbar machen.
Sigmar Polke
Der Großvater meiner Frau hatte die Mondlandung der Amerikaner angeblich lebenslang als Fake bezeichnet. In der Tat war die Beweislage ja auch dünn. Die rappligen Videobilder hätten auch in einem Studio entstanden sein können. Polke simuliert eine ’korrekt’ arbeitende Presseberichterstattung und reproduziert anno 1968 malerisch ein authentisch wirkendes, indes viele Deutungen zulassendes Motiv, das der Tagespresse entstammt sein könnte. Der kompetent wirkende Bildtext unterstreicht (hihihi) die vorgebliche Echtheit des Fakes.
Sigmar Polke, Flopp 1996
Beim Zypern-Urlaub fand Polke in einer Zeitung einen Fehldruck, um danach mehrfach zum Kiosk zu laufen um nachzusehen, ob sich der Fehler wiederholen würde. Aus dem Rasterfehler machte Polke die drei Arbeiten „Flopp“, „Hopp“ und „Topp“ mit extrem vergrößerten Ausschnitte der fehlerhaften Rasterung im Format 50 mal 70 Zentimeter. Als ’Polke-Effekt’ feierte ein markantes Stilelement der Pop Art.
Max Schulze
Schulze, Immendorff-Meisterschüler erkundet Bildfindungs- und Wahrnehmungsprozesse, sowie die Wechselbeziehung von Abstraktion und Figürlichkeit und geht dabei oftmals von medialem Material aus. Er färbt verschiedene militärische Camouflagemuster mit (patentgeschützten) Farbtönen von Baumarkt-Farbsystemen ein und verstört mit den evozierten Widersprüchen zwischen elaborierter Wohnraumästhetik und militärischer Martialik.
1. Etage, Seitenlichtsaal
"History of Everything" lenkt den Blick auf bereits existierende, zirkulierende Bilder als Quellen und Vorlagen für die Produktion neuer Bilder und Kunstwerke
Raphael Hefti
Seine alchimistisch anmutenden Materialexperimente lassen den Schweizer als Polkes Geistesverwandten erscheinen. Mit abenteuerlich farbigen, bizarr geformten Auskristallisierungen auf rätselhaftem Untergrund füttert der chemisch-physikalisch und an metallurgischen Technologien interessierte ’Daniel Düsentrieb’ unter den Künstlern die irrlichternde Phantasie der Betrachter.
Phoebe Collings-James
Die britische Künstlerin, modisch eine Stilikone, hinterfragt die ’westlich-weiße’ Schreibweise der Kunstgeschichte u.a. mit keramischen Arbeiten, aber auch klanglich. Die gezeigten Arbeiten rufen ein Gefühl des Unbehagens und damit einhergehend auch Verunsicherung hervor, die zum Nachdenken über die eigene Person und - damit ganz im Trend - die westlich dominierte Kunstgeschichtsversion anregen wollen. Unter dem Pseudonym ’Young Nettle’ und als Teil des Black Obsidian Sound System B.O.S.S sucht sie auch als Musikerin die Öffentlichkeit.
Neue, eigens für die Ausstellung geschaffene Werke
Eigens für die Ausstellung angefertigte Arbeiten zeigen Camille Henrot und Kerstin Brätsch
Henrot ließ sich vom Thema ’Produktive Bildstörung’ zu einem Werkzyklus aus Malerei, Digitalcollage und Drucktechniken inspirieren.
Brätsch zeigt eine Installation mit Glasmalerei im Seitenlichtsaal. Von ihr sind außerdem Marmorpapiere und Stuckmarmor zu sehen. Die Künstlerin hinterfragt mit ihren Arbeiten Subjektivität und Autorenschaft und referiert mit ihrem Einsatz von Achatscheiben auf Polkes Kirchenfenster in Zürcher Großmünster.
Festival
Im Rahmen eines internationalen Festivals (25.–27.11.21) an der Kunstakademie Düsseldorf, organisiert von der Anna Polke-Stiftung, knüpfen Akteur*innen unterschiedlicher Disziplinen an die Themen der Ausstellung an. Die Entstehungszusammenhänge, Wahrnehmungsbedingungen und Erscheinungsformen des Phänomens sowie das produktive Potential der Bildstörung – damals und heute – werden in theoretischen und künstlerischen Beiträgen diskutiert.
Es erscheint ein Katalog. Mehr Informationen:www.kunsthalle-duesseldorf.de
/> Quellen: Ein Interview mit der schweizerischen Kunstwissenschaftlerin/ Kuratorin und Polke-Intima Bice Curiger
Ein Artikel von Susanne König zur Hamburger Ausstellung ’Sigmar Polke, Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen’